Ahmeds Blick glitt zu seinem Bruder Bashir, der ihm schräg gegenüber auf dem Boden des Gefährts kauerte, neben zwei anderen jungen Burschen, deren Hautfarbe etwas heller war als ihre eigene. Er tippte auf Äthiopien, verwarf seine These jedoch wieder. Obwohl, die Gesichtszüge waren etwas härter, kantiger als die seiner Landsleute. Somali waren sie nicht. Vielleicht …
Immer wieder hatte sich Ahmed während der Fahrt seine Mitinsassen genau angesehen. Er hatte sie studiert, denn er wollte gewappnet sein, wenn es zu irgendwelchen Zwischenfällen kommen sollte. Sicherlich, es waren Menschen, die wie er und sein Bruder die Flucht in ein neues Leben antreten wollten. Dennoch lauerten Gefahren überall. Die lange Fahrt unter menschenunwürdigen Umständen ließen die Nerven schnell blank liegen, die verschiedenen Religionen brachten ausreichend Aggressionspotential mit sich.
Ahmed zählte unauffällig die Anzahl seiner Begleiter. Zweiunddreißig. Unter normalen Umständen hätten auf dieser Ladefläche acht, maximal zehn Menschen Platz gehabt. Doch der Anlass war kein normaler. Alle diese Leute waren Menschen, die vor der größten Gefahr des schwarzen Kontinents flohen, der Miliz des Islamischen Staates, wie sich die Verbrecher nun selbst bezeichneten. Sie nannten es Krieg, den heiligen Krieg gegen alle und alles, was sich nicht ihrer Ideologie untertan machte. Doch es war nur eine Aneinanderreihung von zahlreichen Morden, die ihre schwarzen Fahnen befleckten. Mörder, die man ausrotten musste, dachte Ahmed.
Dieser Lastwagen war nicht der einzige, der sich auf die Fahrt begeben hatte, um seine menschliche Ladung ein Stück näher an die Freiheit heranzubringen. Davon gab es Hunderte, ebenso wie die Schiffe und Boote, auf denen sie hoffentlich irgendwann über das Meer schippern und in dem gelobten Land Europa anlegen würden.
Ahmeds Blick musterte die Personen, überwiegend junge Männer, ein Ehepaar mit einer Tochter, vielleicht acht Jahre alt und einige ältere Männer, auf der Suche nach dem besseren Leben. Nach Alemannia wollten die meisten, das hatte Ahmed aus den Gesprächen erfahren, die sie mal leise, mal mit Wucht untereinander führten. Er und sein Bruder hatten sich vorgenommen, sich so wenig wie möglich an Gesprächen zu beteiligen. Alemannia war ein Land, in dem man willkommen schien, ein Land, in dem hohe Politiker die Willkommenskultur des überwiegenden Teils der Bevölkerung mit großen Worten unterstützten. Eine Frau stand dort an der Spitze der Regierung. Er hatte über sie in den Nachrichten gehört. „Wir werden niemanden abweisen, der unsere Hilfe benötigt“, hatte sie versprochen und aus Dankbarkeit hatten in Alemannia angekommene Flüchtlinge sie bereits Mama getauft.
Es wurde plötzlich laut im vorderen Bereich. Einer der Männer klopfte mit der Faust gegen das Zwischenfenster des Fahrerraumes, wo ein jüngerer Mann hinter dem Lenkrad saß. Offensichtlich der Sohn des hinkenden Schleppers, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Ihm war es wohl kaum mehr möglich, wegen seiner Verletzungen ein Fahrzeug zu führen. Der Alte drehte sich zu dem Fenster und begann zu gestikulieren.
„Anhalten! Wir wollen eine Pause!“, rief derjenige, der gegen das Fenster gehämmert hatte.
Der Alte im Fahrerraum gestikulierte weiter und zeigte auf seinen linken Unterarm, auf eine billige Armbanduhr. Dann streckte er den rechten Zeigefinger in die Höhe: eine Stunde noch.
Der Mann resignierte und unterhielt sich schimpfend mit seinem Nachbarn. Doch bald darauf hielt der Wagen und der Fahrer gab den Leuten Hilfestellung beim Aussteigen. Die meisten verrichteten in einiger Entfernung ihre Notdurft, dann riefen einige nach Wasser. Ahmed wusste nicht, wie viele Tage sie noch auf dem Lastwagen verbringen mussten. Aber er wusste: Ohne Wasser würde es hier zu großen Komplikationen kommen. Er ahnte, was nun kommen würde.
Der Fahrer öffnete eine verschlossene Klappe unter der Ladefläche und brachte einige Wasserflaschen zum Vorschein.
„Mehr gibt es heute nicht!“, rief er. „Morgen kommen wir in Selime an. Dort werden wir essen und trinken.“
Ahmed kannte den Ort Selime nicht. Er interessierte ihn auch nicht. Er hoffte, dass diese Fahrt bald zu Ende ginge und sie das Meer erreichten.
In Selime trafen sie am Morgen des kommenden Tages ein. Es war eine Wohltat, denn es gab zu Essen und Trinken, spärlich zwar, aber es gab etwas. Sie füllten die Wasservorräte auf, unverderbliche Nahrung in Konserven. Alles wurde in dem Lkw, unterhalb der Ladefläche verstaut und die Klappe von dem hinkenden Schlepper verschlossen.
Dann begann die Hölle.
Tagelang fuhren sie mit dem klapprigen Gefährt durch die Sahara, vorbei an Tierskeletten, vorbei an toten Flüchtlingen. Das Essen war knapp und auch an den Getränken musste gespart werden. Unter der Plane des Lastwagens war Lethargie ausgebrochen. Nicht einmal das Kind weinte mehr. Auch aus den Körpern von Ahmed und Bashir war die Kraft gewichen und der Schlaf übermannte sie immer wieder.
Ab und zu passierte der Wagen eine Oase, die der Fahrer offensichtlich kannte. Dann schleppten sich alle zu dem Wassertümpel und saugten sich die Mägen voll. Kanister wurden gefüllt und als Reserve unter dem Wagen eingeschlossen. Zu essen gab es an den Oasen meist nichts. Ein paar Kanten Fladenbrot höchstens, das man von den wenigen Wüstenbewohnern erhielt, und die man wie ein Tier in sich hineinstopfte.
Einmal beobachtete Ahmed, wie der Fahrer mit zwei Wüstenbewohnern diskutierte und schließlich zwei Kanister erhielt, die offensichtlich Treibstoff für den Lastwagen enthielten. Er sah, wie ein Geldbetrag den Besitzer wechselte.
Dann lagen alle, allein bedeckt mit ihrer Kleidung in der kalten Wüstennacht, bevor es am anderen Morgen weiterging.
Das Boot
Tripolis, die Hauptstadt Libyens, erreichten sie kraftlos und dahinvegetierend, nach wochenlanger Fahrt. Dort kamen sie mit anderen Flüchtlingen zusammen, die ihnen erzählten, dass sie nicht so ein Glück hatten wie Ahmed und dessen Bruder.
„Wir wurden immer nur ein Stück auf dem Weg mitgenommen“, erzählte ein junger Mann aus Eritrea. „Wenn wir keinen Transport fanden, sind wir manchmal nächtelang zu Fuß gegangen. Wir schliefen tagsüber am Wegesrand, denn in der kühlen Nacht hatten wir mehr Energie, um größere Strecken zu schaffen.“ Er sah sich nach allen Seiten um. „Hütet euch vor den Leuten in Uniformen. Sie wollen euer Geld, wenn sie welches bei euch vermuten. Wenn sie merken, dass ihr Geld habt, es ihnen aber nicht geben wollt, helfen sie euch nicht. Im Gegenteil, es kann sein, dass sie euch schlagen, wenn sie keinen Vorteil erkennen. Wir sind Freiwild für sie. Niemand stört sich daran.“ Dann reichte er den beiden Brüdern die Hand. „Ich bin Yussuf. Yussuf Idris Abdullah“, fügte er noch schnell hinzu. „Falls wir uns irgendwann gegenseitig suchen müssen. Und ihr? Ich meine, eure Namen?“
„Ich bin Ahmed Timcade und das ist mein Bruder Bashir. Wir kommen aus dem Norden Somalias. Und du? Du kommst aus …?“
„Eritrea. Sieht man doch. Ich bin etwas dunkler auf der Haut als ihr beide“, lachte er verhalten.
Yussuf war etwa im selben Alter wie Ahmed. Er war schlank, aber er wirkte drahtig, kräftig und belastbar. „Wir sollten zusammenbleiben“ dachte Ahmed bei sich.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er und blickte über die Menschenansammlung, die sich inzwischen oberhalb der Meeresküste gebildet hatte. Er schätzte rund 150 Personen. Es kamen immer mehr hinzu. Der Ansturm auf die Boote würde gleich beginnen.
„Die wollen alle übers Meer, so wie wir auch.“ In der Stimme Yussufs schwang etwas mit, das Ahmed nicht deuten konnte.
„Los, vorwärts!“ Die Stimme ertönte hinter ihnen und gleich darauf hörten sie weitere Männer, die Befehle riefen. „Alle runter zum Ufer! Beeilung, wenn ihr mitwollt!“
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