Die Straße war menschenleer. Niemand, der ihm hätte helfen können. Er war auf sich allein gestellt. Er musste laufen, um ihnen zu entkommen.
Er rannte um sein Leben!
Es machte ihm normalerweise nichts aus, barfuß zu laufen, er war es gewohnt und hatte es sein ganzes Leben getan. In seiner Heimat, in staubigem Sand und lehmigem Boden auf afrikanischer Erde. Das hier war etwas anderes. Das hier war Asphalt und er spürte, wie der Schmerz begann, sich über seine Fußsohlen auszubreiten und sich stechend und brennend auf Fersen und Fußballen festzusetzen.
Seine einzige Tarnung in diesen späten Stunden der lauen September-Nacht war seine Hautfarbe. Sie war so dunkel wie die hereingebrochene Nacht und wenn er sich an eine Hauswand presste, um sich vor seinen Verfolgern zu verstecken, verschmolz seine schlanke jugendliche Figur förmlich mit ihr.
Den Gegensatz zu seiner Hautfarbe bildete seine Kleidung. Er trug immer noch das, was er seit dem Tage seiner Flucht vor der Terrormiliz IS aus seinem Dorf in Eritrea und später in einem überfüllten nussschalenförmigen Boot auf dem Mittelmeer am Leib hatte: eine zerschlissene Jeans der billigsten Ware, ein blau-kariertes Hemd und darüber eine Steppjacke, die ihm einer seiner Stammesbrüder vor der Abfahrt zugeworfen hatte.
„Verlier‘ sie nicht, Bruder!“, hatte der schwarze Mann, den er unter dem Namen Ali flüchtig kennengelernt hatte, gerufen. „Das Meer ist kalt und es stirbt sich leichter in einer warmen Jacke! Überleg es dir! Bleib hier! Deine Chancen stehen nicht gut!“
Er meint es gut, hatte er gedacht und dem Mann dankend zugewunken. „Ich werde es schaffen, du wirst sehen!“, hatte er zurückgeschrien. „Ich schaffe es nach Alemannia! Viele sind schon dort gelandet! Sie schreiben uns! Über Smartphone! Sie sagen, wir sollen kommen! Dort gibt es Frieden und Freiheit! Ein gutes Leben!“
Ali hatte mit beiden Händen vom Ufer aus winkend die Luft geteilt, während er selbst auf das Wasser zugelaufen war, das Boot, dem auch zahlreiche andere zustrebten, im Auge. Er hatte die Stimme Alis in der Ferne in Fetzen wahrgenommen. „Frieden und Freiheit gibt es nur, wenn du das Meer mit dieser verdammten Nussschale überlebst! Ist dir dein Leben nicht mehr wert?“
Er hatte abgewunken. „Wir sind zu dritt!“, hatte er geschrien. „Wir werden es gemeinsam schaffen!“
Ali hatte weiter gewunken und er hatte den Eindruck gemacht, dass dessen Lippen Sätze formten. Doch er war bereits zu weit weg gewesen, und das Schlagen der Wellen hatte alle menschlichen Stimmen aus dieser Entfernung übertönt. Er hatte noch einmal in Richtung des Mannes, den er gerne zum Freund gehabt hätte, gewunken. Doch er würde ihn nie wiedersehen, das wusste er. Entweder er kam in Alemannia an oder das Meer würde ihn in seine unendlichen Tiefen ziehen wie Tausende vor ihm. Er hatte sich entschieden. Wie sagte man doch in den sogenannten kultivierten Ländern? Hopp oder Topp. So sollte es sein. Hopp oder Topp. Tod oder Leben. Freiheit oder Unendlichkeit.
Er hatte noch einmal zurückgesehen und mit den Armen in der Luft gerudert. Dann hatte er sich auf das Boot geschwungen, wobei ihm die kräftigen Arme seiner beiden Freunde geholfen hatten, bis er sich auf den nassen Holzplanken des Bootes, das sein Schicksal bestimmen sollte, wiederfand.
*
Seine Fußsohlen brannten und der Gedanke, dass ihn seine Kleidung verraten würde, irgendwann in den nächsten Minuten, ließ sein Herz bis zum Hals schlagen. Er überlegte schon, ob er sich ihrer nicht einfach entledigen und nackt weiterlaufen sollte.
Er entschied sich dagegen.
Nun lief er durch die Dunkelheit einer Stadt, deren Namen er vor kurzem erst zum ersten Mal gehört hatte, durch eine Dunkelheit, die seine letzte Hoffnung war, in deren Mantel er hoffte, sich irgendwo, wenn es sich bot, vor seinen Verfolgern zu verstecken.
Plötzlich wandte sich diese Dunkelheit gegen ihn und die dichten Wolken machten einem runden, kräftigen und hellen Mond Platz. Mit einem Schlag schien ihm alles taghell und er erwog schon, zu resignieren, einfach stehen zu bleiben und seinem Tod voller Stolz und Stärke entgegen zu sehen.
Nein! Er musste leben! Sie brauchten seine Hilfe!
Er lief weiter. Auf die vierspurige Kreuzung zu. Auf der anderen Straßenseite gab es eine Gasse. Sie war nur spärlich beleuchtet. Dort aber glaubte er seine Chancen größer, seine Verfolger abzuschütteln zu können.
Er machte den letzten großen Fehler in seinem Leben.
Er spurtete los, wollte über die Straße, wollte in diese Gasse hinein. Mit Gassen kannte er sich aus. Seine Heimatstadt war voll davon. Zahlreiche Verfolgungsjagden hatte er dort überstanden. In den Gassen konnte er seine Verfolger an der Nase herumführen, ja, vielleicht sogar sie zu Verfolgten machen.
Er hatte die andere Fahrbahnseite erreicht.
Die Gasse!
Nur noch wenige Meter!
Der Schlag traf ihn im Rücken, warf ihn nach vorne. Dann noch einer und ein weiterer. Er spürte keinen Schmerz. Sein Blick richtete sich gegen den Himmel, wo sich der Mond anschickte, hinter einer dunklen Wolke zu verschwinden. Dann fiel er auf beide Knie und Dunkelheit umgab seine Sinne.
„Freiheit“, war sein letzter Gedanke. „Ich bin frei.“
Sein Körper war nur noch ein lebloser Fleischklumpen, als ihn starke Männerhände in eine dunkle Nische zogen, um ihn dort auf die Ladefläche eines kleinen Pickups zu werfen, der seine Ladung kurz darauf zu dem Fluss brachte, den die Menschen, deren Vorfahren hier die erste Römerstadt erbaut hatten, an Karneval liebevoll Mosella nannten.
Der Beginn der Flucht
Vier Wochen zuvor
Als sie die Schüsse und das Geschrei der wilden Horden wahrnahmen, wussten sie, dass es an der Zeit war, zu handeln. In der Weite ihrer somalischen Heimat erschienen die fanatischen Rufe so nah, als hätten die mörderischen Banden ihr Dorf bereits erreicht. Doch der Schall wurde über die trockene Fläche getragen und erreichte ihre Ohren, obwohl die Herannahenden noch mehrere Kilometer von ihnen entfernt waren.
„Es wird Zeit, meine Söhne!“
Mutter Myriam hatte Tränen in ihren dunkelbraunen Augen, als sie auf Ahmed und Bashir zuging. Sie hatte das lange Tuch des buntes Thobes, einem Schal ähnlichen Textil, doch um vieles länger, um ihren Körper gelegt und mit dem Ende einen Teil ihres schwarzen Haars bedeckt. In ihren Händen hielt sie zwei zerschlissene Rucksäcke, die sie vor den beiden abstellte.
„Nun ist es so weit. ihr müsst uns verlassen. Habt keine Angst um mich und eure Schwestern. Ich bin zu alt und die beiden sind zu jung. Sie werden uns in Ruhe lassen. Mit der Rekrutierung der jungen Männer im Dorf haben sie ausreichend zu tun. Euch wird man nicht rekrutieren, denn ihr werdet nicht mehr hier sein, wenn sie das Dorf erreicht haben.“
Sie blickte von einem zum anderen, als denke sie nach. Dann sagte sie: „Wartet noch einen Moment!“
Myriam eilte mit kurzen Schritten in das kleine Haus zurück, einer der primitiven Bauten in ihrem kleinen Dorf, in dem es rund weitere zwanzig davon gab. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines Päckchen in der Hand und reichte es Ahmed.
„Du bist mit deinen zwanzig Jahren der Ältere. Du kümmerst dich um alles. Hier ist das Geld. Es reicht gerade aus, um es diesen Aasgeiern in den Rachen zu werfen. Aber es ist eure einzige Chance. Ihr müsst Europa erreichen. Dort seid ihr in Freiheit. Dort werdet ihr euer Leben gestalten. Es muss ein gutes Leben werden. Tut es für euch und die Familie. Denkt immer an uns und an euren Vater. Er darf nicht umsonst gestorben sein. Diese Verbrecher!“
Die Tränen schossen ihr erneut in die Augen, als ihre Gedanken kurz zurück schweiften und die grausamen Bilder sich wieder in ihrem Hirn manifestierten.
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