Vater Hassan war von den verbrecherischen Milizen der IS gegen seinen Willen rekrutiert worden. Rund 60 bewaffnete Kämpfer der Terrormiliz IS, erwachsen aus der Miliz al-Shahab, eine der Al-Kaida nahestehende Gruppierung, hatten den Ort eingenommen und die Männer zum Kämpfen aufgefordert. Hassan hatte sich mit Worten und Gesten gegen seine Verschleppung gewehrt. Zwei Tage später fanden ihn seine Söhne Ahmed und Bashir etwa fünfhundert Meter hinter dem Dorf, aufgedunsen von der Sonne, ein Opfer der Maden und Vögel. Man hatte ihm den Kopf abgeschlagen und ihn in der Sonne liegen gelassen, so, wie er vor ihre Füße gefallen war.
Als ihre Söhne an diesem Tag nach Hause kamen, den alten hölzernen Handkarren hinter sich herziehend, wusste sie gleich, was sie erwarten würde.
„Sie wollen, dass wir gegen Christen kämpfen“, hatte Ahmed gesagt und ihr dabei in die Augen gesehen. „Doch das werden wir nicht tun.“
Bashir hatte genickt, trotzig, mit zu Boden geneigtem Kopf. „Wir werden gegen niemanden kämpfen mit diesen Barbaren. Lasst uns alle von hier fortgehen, fort in ein anderes Leben, in ein Land, wo wir überleben werden. Hier wird das nicht möglich sein. Hier werden wir sterben, so oder so, wie unser Vater. Auch du musst mit uns kommen, Mutter. Auch unsere Schwestern. Wir können Euch doch nicht hier zurücklassen.“
Talibe und Samira waren im Haus. Sie hatten sich bereits unter Tränen von ihren Brüdern verabschiedet und lagen sich nun weinend in den Armen. Sie hätten es nicht verkraftet, die Silhouetten ihrer Brüder in der Ferne verschwinden zu sehen. Sie wollten ihre lieben Gesichter aus der Nähe in ihren Gedanken eingeprägt wissen.
„Doch, meine Söhne, ihr könnt und ihr müsst. Vielleicht will Allah ja, dass wir irgendwann nachkommen können. Glaubt mir, wir werden uns wiedersehen, meine Söhne. Ganz bestimmt werden wir das. Und jetzt geht! Es wird Zeit!“
Myriam zeigte in die Ferne, über das flache, steinige Land zum Horizont. „Wenn Ihr diese Berge dort erreicht habt, gelangt ihr zu einem Dorf namens Bade. Fragt nach Muhammad Said. Er wird euch weiterhelfen. Ihm müsst ihr das Geld geben. Dann werdet ihr in Europa eure Zukunft finden. Allah sei mit euch!“
Ahmed zögerte. Er sah auf den Umschlag in seiner Hand und öffnete ihn. „Mutter, wo hast du das viele Geld her?“, stammelte er, als er den für ihre Verhältnisse riesigen Betrag sah. „Das geht doch nicht …!“
„Du kannst es unbesorgt nehmen. Ich habe einen Teil unserer Ziegenherde verkauft. Jetzt, wo wir alleine hierbleiben, brauchen wir nicht mehr so viele. Und wer weiß, vielleicht werden sie uns den Rest auch noch wegnehmen. Verstehst du nun, dass das Geld bei euch besser angelegt ist? Lasst niemanden einen Blick darauf werfen. Versteckt das Geld an euren Körpern. Sagt ihnen, dass ihr nicht mehr Geld habt, als jenes, das ihr ihnen zeigt, denn sie werden versuchen, euch alles wegzunehmen.
Der Schleuser
Einen Tag und eine Nacht marschierten Ahmed und Bashir Timcade ohne einen Zwischenfall, dann hatten sie das Dorf Bade erreicht. Sie fragten nach Muhammad Said und ernteten mitleidvolle Blicke. Doch die Gefragten zeigten wortlos auf ein Haus, vor dem ein mit einer Plane versehenes Lastauto stand. Ein Mann von gedrungener Statur, mit dichtem dunklen Bart und einem speckigen Turban hantierte unter der Motorhaube. Sein bodenlanger Kaftan war irgendwann einmal weiß gewesen, doch offensichtlich war er der einzige, den der Mann besaß. Unter dem Saum lugte ein Teil des linken Fußes hervor, der offensichtlich in einer Sandale steckte, die man jedoch nicht sehen konnte. Der Fuß hatte vermutlich lange kein Wasser gesehen, die Fußnägel begannen sich bereits nach unten zu krümmen.
„Muhammad Said?“, fragte Ahmed zögernd.
Der Mann sah nur kurz auf und musterte die beiden, die er, wie es den Anschein hatte, bereits erwartete. „Habt ihr das Geld dabei?“ Seine Augen hatten etwas Lauerndes, seine Worte waren fordernd.
Ahmed nickte.
Said grinste über das ganze Gesicht und hielt die offene Handfläche in ihre Richtung.
Ahmed schreckte zurück und schüttelte den Kopf. „Wir zahlen, wenn wir losfahren. Wir können doch nicht ...“
„Geht! Verschwindet!“, unterbrach ihn Said und machte Bewegungen mit beiden Armen, als wollte er Hühner davon scheuchen. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Die Brüder hörten seine Stimme. „Es gibt genügend Leute, die eure Plätze einnehmen wollen.“
„Aber es war doch abgemacht ...“, unternahm Ahmed den Versuch, zu vermeiden, dass er jetzt schon sein Geld loswürde und unter Umständen letztendlich mit seinem Bruder zurückbleiben würde.
Doch Said unterbrach ihn erneut. „Habt ihr denn kein Vertrauen?“, fragte er langsam und mit schräg angewinkeltem Kopf.
„Wir vertrauen niemandem mehr in diesem Land“, würgte Bashir hervor. Und dann fügte er hinzu: „Wir werden erst bezahlen, wenn wir wissen, dass wir Teil des Transports sind. Und wenn Ihnen das nicht passt … es gibt auch andere, die uns gegen Geld dahin bringen, wohin wir wollen. Komm Ahmed, lass uns weitergehen.“
Ahmed hatte es ob der Courage seines Bruders den Atem verschlagen und er überlegte, ob er nicht klein beigeben sollte. Dann entschied er sich dagegen. Sein jüngerer Bruder stellte sich diesem Widerling mit allem Stolz entgegen. Dann wollte auch er diese Haltung einnehmen.
„Du hast recht, Bruder. Komm!“
In der Fortbewegung hörten sie die krächzende Stimme des Schleppers, die ihre Schritte stoppte und sie zum Umdrehen veranlasste. Sein gestreckter Arm zeigte zum Ende des Gebäudes, in dem er offensichtlich wohnte.
„Seid heute Abend bei Einbruch der Dunkelheit hier“, sagte er in ruhigem Tonfall, als habe es den kleinen Disput nie gegeben. Es schien, als imponierte ihm die Haltung der beiden Brüder. „Haltet euch dort in dem Schuppen auf und rührt euch nicht, bis ich euch ein Zeichen gebe. Ihr werdet nicht alleine sein.“
Die beiden folgten mit ihren Blicken seinem Arm und erkannten den Vorsprung eines kleinen Geräteschuppens, der hinter dem Wohnhaus hervorlugte. Sie sahen sich an und nickten. Er würde sie mitnehmen, auch wenn die Bezahlung erst am Abend erfolgen würde.
Nachdem Said die Worte gesprochen hatte, humpelte er davon, seinem bescheidenen Haus entgegen. Den Kaftan hatte er bis zu den Kniekehlen hochgezogen, als er die Treppe zum Hauseingang hinaufstieg. Dabei sahen Ahmed und Bashir den Grund für die schleppende Fortbewegungsweise des Mannes. Das rechte Bein wies grob verheilte, großflächige Wunden auf, die Muskel des rechten Unterschenkels fehlten zu einem großen Teil.
Die beiden Brüder sahen sich an. „Eine Mine“, flüsterte Bashir mit dem Verständnis eines jungen Mannes, für den eine solche Erkenntnis keine Seltenheit oder Neuigkeit darstellte und lenkte seinen Blick wieder zu Said, der gerade humpelnd in seinem Haus verschwand.
Ahmed nickte ernst. „Ich glaube dennoch, dass wir ihm nicht vertrauen können.“
Durch die Wüste
Die Fahrt in dem klapprigen Lastwagen dauerte nun schon sechs Tage, und es kam Ahmed und Bashir wie eine Ewigkeit vor. Am Abend vor der Abfahrt hatte Ahmed Said das Geld gegeben. Nicht alles, einen Betrag hatte er abgezweigt und am Körper versteckt. Er und sein Bruder würden es noch brauchen können, davon war er überzeugt. Ahmed beobachtete immer wieder die restlichen Menschen, die sich der Gefahr einer Meeresüberquerung aussetzen wollten. Er sah den Kummer und den Gram in ihren teils faltigen, teils ungewaschenen Gesichtern. Er sah die Angst in den Mienen der Frauen, die ihre Kinder fest umklammerten und mit lauernden Blicken ihre männlichen Mitfahrer fixierten. Aber er sah auch die lauernden Blicke einiger Männer und er hatte das Gefühl, dass ihre Blicke immer wieder zu seinem Gepäck und dem seines Bruders wanderten. Unbewusst zog er seinen Rucksack zu sich, zwischen seine angewinkelten Beine, dicht an seinen Körper. Er glaubte, ein höhnisches Grinsen bei einem der Männer festzustellen.
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