Er entschloss sich seine Informationen bei Wikipedia zu besorgen. Mit dieser Seite hatte er bisher ausreichend gute Erfahrungen gemacht. Hier konnte man übersichtlich gebündeltes Wissen zu seinen Fragen finden.
Die Informationssammlung ließ ihn verstehen, dass es sowohl gutartige als auch sehr bösartige Tumoren im Bereich der Bauchspeicheldrüse gab. Gutartige Tumoren hatten eine sehr hohe Heilungschance, während es bei den Bösartigen, aufgrund der frühen Metastasierung in benachbarte Organe und Gefäße, statistisch gesehen eine sehr hohe Sterblichkeitsrate gab. Hier schien ihm besonders das Adenocarcinom äußerst gefährlich zu sein.
Na, also. Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm, alter Junge. Du hast immerhin gute Chancen, dass es sich um eine gutartige Veränderung handeln kann. Obwohl er versuchte sich das intensiv einzureden, wurde er die Angst nicht wirklich los. Adenocarcinom. Was ein harmloses Wort. Richtig übersetzt, bedeutete es aber meistens das Todesurteil. Das Problem war, dass dieser Tumor keine großartigen Symptome machte, bevor er meist durch einen Zufallsbefund entdeckt wurde. Dann aber war es in der Regel zu spät.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zur Ruhe zu zwingen und auf die Untersuchung zu warten. Da er sich nicht sicher war, ob der Mann wenn er den Laden verlassen hatte, versuchen würde, nachzuschauen, welche Seiten er besucht hatte, löschte er den von seinen Aktivitäten erstellten Verlauf, ging am Tresen vorbei, zahlte seine Rechnung und trat wieder auf die Straße. Er hatte beschlossen heute im Autohaus zu übernachten. Dort lief er nicht Gefahr Saskia zu begegnen und in ein unbequemes Gespräch verwickelt zu werden. Er wollte gegen 20:00 Uhr dort sein, eine Tablette nehmen und dann schlafen. Markus war sich sicher, dass sich um diese Zeit niemand mehr in seinem Geschäft befinden würde.
Die Zeit vertrieb er sich, indem er in der Fußgängerzone Schaufensterauslagen betrachtete und die umher-laufenden Menschen beobachtete. Im Schaufenster eines Fotogeschäftes sah er Bilder von Hochzeitspaaren, von Einzelpersonen und auch von scheinbar glücklichen Familien, welche sich mit ihren Kindern hatten ablichten lassen. Bei dem Anblick der Bilder war es ihm, als würde ihm ein Messer in sein Herz gestoßen. Siehst du, das Alles hättest du haben können. Aber du musstest ja unbedingt dein Autohaus haben. Jetzt wird niemand da sein, der um dich weint und deine Sorgen mit dir teilt. Das Einzige was noch interessant an dir sein wird, ist die Aufteilung des Vermögens aus dem Autohaus. Tolles Finale. So hattest du dir das wohl nicht vorgestellt? Nein, ganz sicher nicht. Scheiss Adenocarcinom. Warum entwickelt der Körper eigentlich selbst etwas, was ihn umbringen kann? Unglaublich! Darüber hatte er sich vorher nie Gedanken gemacht. Klar wusste er, dass es derartige Erkrankungen gab, aber dass es ihn treffen könnte? Damit hatte er nie gerechnet und sich auch nie Gedanken darüber gemacht.
Als er das Autohaus betrat, war alles wie erwartet, menschenleer und ruhig. Da standen sie alle, diese glänzenden Blechhaufen, die er so geliebt hatte und auf die er immer so stolz gewesen war. Und jetzt? Was hatte er davon? Nichts. Es waren einfach nur Gebrauchsgegen-stände, jederzeit austauschbar und ohne irgendwelche menschlichen Eigenschaften. Ein Vorteil blieb ihnen aber doch. Man konnte sie, egal in welchem Zustand sie sich befanden, reparieren und wieder wie neu aussehen lassen. Das war der Unterschied zu ihm. Da war es mit dem Reparieren nicht so einfach.
Markus zog sich in sein Büro zurück, holte eine der kleinen weißen Tabletten aus der Schachtel und nahm sie mit einem Glas Wasser ein. Dann legte er sich auf die Sitzecke, welche normalerweise für besonderen Besuch vorgesehen war und wartete auf den Schlaf. Er hatte Glück und schlief sehr rasch ein. In seinen Träumen tauchte immer wieder Saskia auf. Sie hatte ein kleines wunderschönes blondes Mädchen bei sich und die beiden warteten ungeduldig an der Haustür auf ihn, wenn er nach Hause kam. Alle zusammen aßen zu Abend und spielten dann zusammen irgendwelche Spiele. Dabei ging es sehr lustig zu und er konnte das helle Kinderlachen deutlich hören. Genau an dieser Stelle mischten sich andere Bilder in seinen Traum. Er sah seine Frau auf einem OP Stuhl liegen und ein gesichtsloser Chirurg riss ihr ein Kind aus dem Leib. Das Kind versuchte sich zu wehren und an seiner Mutter festzuhalten, die selbst in der Narkose heftig weinte. Alle Gegenwehr des Kindes war umsonst. Als es dann weggetragen wurde, sah es ihn mit großen Augen an und sagte: „Papa, warum hast du uns das angetan? Ich wollte doch so gerne noch bei euch bleiben und mit euch spielen. Mir ist so kalt. Wo muss ich denn jetzt hin? Papa hilf mir bitte.“
Markus wachte auf. Er war nass geschwitzt und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er hatte die Hände weit ausgestreckt und schluchzte immer wieder den Namen Marie. „Marie, es tut mir so leid. Das habe ich nicht gewollt. Bitte verzeih mir. Ich liebe dich. Bitte komm zu uns zurück.“ Die Bilder verschwanden und Markus wälzte sich unruhig hin und her, während er versuchte wieder einzuschlafen.
Er erwachte endgültig, als der Radiowecker irgendein bedeutungsloses Lied vor sich hin schnarrte. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und lief in das im Autohaus befindliche Bad. Hier hatte er immer eine Zahnbürste und einen Kamm, falls er sich zwischen den Verkaufsgesprächen einmal frisch machen musste. Auch hatte er eine kleine Auswahl an Kleidungsstücken zum Wechseln in seinem Büro. Markus machte sich fertig und bemerkte dabei, dass er kaum in der Lage war sich die Knöpfe an seinem Hemd zu schließen, so aufgeregt war er. Den Weg zu seinem Wagen legte er fast automatisch zurück, während er immer wieder wie plastisch die Traumbilder der letzten Nacht vor sich hatte. Schnell ins Kranken-haus Markus. Schnell die Untersuchung hinter uns bringen und dann zu Saskia um zu versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie hatte sich auf seine Anfrage nach einem Gespräch nicht mehr gemeldet. Auch dass er diese Nacht nicht zuhause gewesen war, schien ihr nicht aufgefallen zu sein.
Auf dem Besucherparkplatz der Klinik fand er um diese Zeit noch ohne Probleme einen Parkplatz. Gleich hinter der Eingangstür befand sich der Empfangstresen. Eine Dame saß dort, um Informationen zu geben und die Telefonanlage zu überwachen. Sozusagen die Logistikabteilung des Krankenhauses.
Markus reichte ihr den Überweisungsschein und den Terminzettel über den Tresen.
„Zum Kernspin? Das finden sie in der radiologischen Abteilung im zweiten Untergeschoss. Nehmen sie bitte den gegenüberliegenden Aufzug und fahren sie auf U2. Ich werde sie schon einmal telefonisch anmelden, Herr Schmidt.“ Markus bedankte sich und ging zu dem Aufzug. Er drückte die Pfeiltaste nach unten und wartete. Während des Wartens konnte er auf einem Schild, welches neben dem Aufzug angebracht war, lesen, was sich in diesem Hause wo befand. In U2 befand sich die radiologische Abteilung, die Containerversorgungsanlage, der Andachtsraum und der Abschiedsraum. Toll, Radiologie und Abschiedsraum auf einer Ebene. Markus schnürte es die Kehle zu und er bekam kaum noch Luft. Ein Klingeln wies ihn darauf hin, dass der Aufzug das Erdgeschoss erreicht hatte und gleich zum Einsteigen bereit war. Mit einem leichten Zischen öffneten sich die Türen des Aufzuges und Markus konnte eintreten. U2, hell leuchtete der Schriftzug auf, als er den Knopf gedrückt hatte. Die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich mit einem leichten Rucken und einem Ächzen, so als hätte er keine Lust auf diese Fahrt, in Bewegung. Es geht abwärts, dachte Markus. Zwei Stockwerke unter die Erde. Kannst dich ja schon mal dran gewöhnen.
Wieder ruckte der Aufzug und öffnete seine Türen. Markus trat heraus, um sich zu orientieren. Alles war in helles Neonlicht getaucht. Zur Radiologie ging es nach rechts. Wenn man nach links ging, würde man den Andachtsraum und den Abschiedsraum erreichen. Markus ging nach rechts und erreichte bald die Anmeldung der Radiologie.
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