Unter Androhung diverser Gräueltaten haben sie mich dazu genötigt, mitzugehen. Bevor ich „Null-Bock“ sagen kann, stapfe ich bereits mit drei Muskelprotzen und zwei Barbie-Quasselstrippen durch den Wald. Es ist bereits dunkel. Nur die Taschenlampen der Jungs erhellen die Winterlandschaft. Claire und Tim sind auch ausgegangen – zu irgendeiner Dorfversammlung.
Meine Cousinen starten absolut lächerliche Anmachversuche, bei denen sie sich in den Schnee fallenlassen und einen angeknacksten Knöchel simulieren. Lucien geht sogar darauf ein. Ritterlich hebt er Emma in seine Arme, die die ganze Zeit über in sein Ohr kichert. An seiner Stelle hätte ich sie wieder abgeladen. Sein belustigtes Gesicht bleibt mir aber dennoch nicht verborgen.
Tristan wird gerade von Lydia mit Schneebällen bearbeitet – er wirft nicht mal zurück, lächelt nur, aber es reicht nicht bis zu seinen Augen. Kadien hält sich im Hintergrund, betrachtet dieses Schauspiel aber mit hochgezogenen Augenbrauen. Er ist mir der Liebste von ihnen, denn er quatscht nicht so viel.
Ich mache Minischritte, um Abstand zu gewinnen. Das hält doch niemand auf Dauer aus.
Plötzlich vernehme ich hinter mir ein lautes Rascheln. Zwischen den Bäumen steht wieder diese schwarze Gestalt mit Umhang. Gefühlte Minuten starren wir einander nur an. Langsam trete ich zurück, während mir das Herz bis zum Hals schlägt.
Im nächsten Augenblick prallt mein Rücken gegen einen Körper. Dem Herzinfarkt nahe drehe ich mich um. Es ist bloß Lucien.
„Hope? Ist alles in Ordnung?“ Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm an die Schulter zu boxen, weil er sich schon wieder an mich herangeschlichen und mich dabei fast zu Tode erschreckt hat. Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch.
Blitzschnell drehe ich mich wieder um und fixiere die Stelle, an der gerade eben noch diese Gestalt stand. Sie ist weg. Wenn sie weggelaufen wäre, hätte man das sicher im tiefen Schnee gehört. Toll, jetzt sehe ich schon Gespenster. Ich sollte mal ein CT machen lassen, da stimmt doch was nicht im Oberstübchen.
„Was hast du dort gesehen?“ Ich ignoriere Lucien und gehe weiter. Sein Arm hält mich zurück. Verärgert reiße ich mich los.
„Verzeih mir. Ich vergesse immerzu, dass du nicht berührt werden willst.“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass er damit recht haben könnte. Es ist mir irgendwie unangenehm, berührt zu werden.
„Dir muss etwas Schreckliches widerfahren sein. Hat es etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun? Ich habe dein Gesicht gesehen, als du das Foto betrachtet hast. Du hast es zwar gut verborgen, aber ich habe den Schmerz in deinen Augen gesehen. Sprichst du deshalb kein Wort?“ Für ein paar Sekunden fixiere ich ihn. Im nächsten Augenblick drehe ich mich um und will gehen.
„Hope, warte.“ Ich halte inne, sehe ihn aber nicht an, als er neben mir auftaucht.
„Du machst mir das hier echt schwer.“ Ich habe keine Ahnung, was er damit sagen will, also sehe ich einfach nur desinteressiert aus. Er lächelt.
„Hör zu, ich wollte die ganze Zeit über mit dir alleine sein.“ Was ? Nein, jetzt mach mal halblang. „Verzeih mir, wenn ich etwas rüpelhaft wirke, du machst mich etwas nervös.“ Rüpelhaft ? Wer sagt denn sowas? Ist das der Satz, bevor er wild knutschend über mich herfällt?
„Würdest du es erlauben, wenn ich dir den Hof mache?“ Wie bitte? Was zum Teufel soll das bedeuten? Sag nicht, er ist so ein Mittelalterspinner, der in Plastikrüstung und mit Laserschwert rumläuft. Der Typ hat sie echt nicht mehr alle.
Ich rolle mit den Augen und suche das Weite, bevor er mich noch „ Holdes Weib “ nennt.
Auf dem Rückmarsch habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt hab ich wohl auch noch Verfolgungswahn.
Tristan grinst breit nachdem ich wieder zurück bei der Gruppe bin. Wieso habe ich das vorherrschende Bedürfnis, ihm eine aufs Maul zu hauen? Meine Cousinen sind augenscheinlich weniger begeistert über meine Rückkehr.
Ein paar Minuten später haben wir die Kirche erreicht und quetschen uns mit gefühlten hundert Jugendlichen in einen absolut stickigen Saal im Pfarrhaus. Mindestens dreißig dieser Finnen sind auch mit von der Partie. Sie werden von den Mädels regelrecht umzingelt. Der Grapscher aus dem Café ist auch unter ihnen.
Sie haben Stühle in einem riesigen Kreis angeordnet. Meine Cousinen drücken Tristan und Lucien auf Plätze neben sich. Ich grinse, die Jungs tun mir echt schon leid.
Ich frage mich, ob es zu spät ist, sich rauszuschleichen. Ist es nicht. Ohne Umschweife drehe ich mich um und drücke mich an den hereinströmenden Teenies vorbei.
Ein letzter Blick zurück soll mir zeigen, ob mein Fluchtversuch unbemerkt geblieben ist, da pralle ich frontal gegen einen Körper. Verdammt.
Schnell mache ich einen Schritt zurück und erstarre. Das sind die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Der Junge, in den ich gerade hineingelaufen bin, ist groß und hat schwarze, lange Dreadlocks, die er mit einem Band fixiert hat. Er steht in Sachen Muskelmasse den Finnen um nichts nach. Sein Blick strahlt eine solche Intensität aus, dass ich darin zu versinken drohe. Sein Mantel ist schwarz und reicht ihm bis über die Knie. Er ist wohl aus der Gothic Szene. Augenblicklich spüre ich diese Außenseiterverbindung zwischen uns. Er passt hier genauso wenig rein wie ich.
Bevor ich in der rosa Seifenblase davonschwebe, lässt er sie mit einer Riesennadel platzen. Vollkommen unbeeindruckt umrundet er mich und lässt mich stehen. Er stößt nicht mal ein „Verzeihung“ aus.
Ein paar Sekunden bin ich einfach nur geflasht . Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Naja, bemerken hätte er mich schon können. Jetzt bin ich echt deprimiert. Die Situation bestärkt mich, meinen Plan zu Ende zu bringen und abzuhauen.
Natürlich habe ich Pech, denn der Pfarrer kommt mir schon von Weitem entgegen. „Schäfchen, dreh dich um, in der anderen Richtung liegt dein Ziel“, prustet er mir zu. So viel zum Plan. Wütend stapfe ich zurück in den Saal. Spinne ich oder hat er mich grad echt Schäfchen genannt?
Da alle schon sitzen, bekomme ich natürlich die geballte Ladung Aufmerksamkeit ab. Bloß der Junge mit den Dreads, von dem ich sie mir gewünscht hätte, spielt gelangweilt mit seinem Handy. Fynn winkt mir fröhlich zu. Ich ignoriere ihn natürlich. Sind wir hier im Kindergarten, oder was?
Genervt lasse ich mich auf einen der freien Plätze neben Kadien fallen. Ihn scheinen diese Hormonwütigen zu meiden, da er Sperrgebiet ist. Mann, wie kann man bloß Mönch werden?
Er sieht ganz gut aus – was für eine Verschwendung.
Nach den ersten Worten des Pfarrers, der uns überschwänglich als seine Herde bezeichnet, drifte ich gedanklich ab.
Jemand hat mir gerade den Ellbogen in die Seite gerammt, was mich aus meinem Tagtraum erwachen lässt. Es war Kadien, der mich eindringlich ansieht. Okay, was hab ich verpasst?
Alle starren auf mich und scheinen auf irgendetwas zu warten.
„Sie spricht nicht“, stößt Lydia aus.
„Aha, warum denn nicht?“, will der Pfarrer, mit auf mich gerichteten Blick, wissen. Wieso erwarten immer alle darauf eine Antwort?
„Soll ich sie vorstellen?“, schlägt meine Cousine vor. Ja unbedingt. Du kennst mich ja schon eine Ewigkeit – ein paar Tage, um genau zu sein.
„Das ist eine gute Idee, Emma.“
„Lydia“, korrigiert sie den Geistlichen schmollend.
„Verzeihung, Lydia natürlich“, beschwichtigt er.
„Also“, fährt sie fort. „Ihr Name ist Hope und sie ist unsere Cousine. Sie kommt aus New York und wohnt seit ein paar Tagen hier. Daddy hat sie bei uns aufgenommen, weil sie nach dem Unfall ihrer Eltern keine Familie mehr hat.“ Ohhh , eine Runde Mitleid bitte. Mann, die Information hätte sie ruhig steckenlassen können. „Daddy sagt, sie war in einer Irrenanstalt.“ Diese Information übrigens auch. „Wir sollen sie aber nicht darauf ansprechen, damit sie sich nicht aufregt. Außerdem habe ich gesehen, dass sie eine Tätowierung hat. Ich bin rein zufällig ins Badezimmer, als sie sich geföhnt hat. Da habe ich es gesehen. Es zeigt einen nackten Mann mit Flügeln. Er hat Hörner auf dem Kopf.“ Danke Lydia. Das war gerade die Lektion: Wie zerstöre ich Hopes Kleinstadtruf in nur zehn Sekunden . Sogar dem Pfarrer steht der Mund sperrangelweit offen.
Читать дальше