Die Verkäuferin hat die Augen verblüfft aufgerissen. Ich zeige auf die Karaffe mit dem Eiswasser, die sie mir ohne zu zögern verräterisch lächelnd reicht. Sie hat wohl auch schon Bekanntschaft mit dem Grapscher gemacht. In einem Guss leere ich den gesamten Inhalt über sein Haupt.
Die Abkühlung hat ihm sichtlich gutgetan, denn als ich ihn loslasse und von mir wegstoße, macht er keine Anstalten, einen Gegenangriff zu starten. Ihm ist die Verblüffung ins Gesicht geschrieben – und der Schmerz. Seine Freunde glotzen mich nur mit offenen Mündern an.
Ich merke gerade, dass er eins meiner Geldstücke mitgehen hat lassen, das er mir überheblich grinsend entgegenhält, um mich anzulocken. Respekt, er hat anscheinend noch nicht genug.
Gemächlich mache ich ein paar Schritte auf ihn zu, da lässt der Typ das Geldstück in seiner Faust verschwinden, was seine Freunde laut auflachen lässt. Glücklicherweise habe ich das bereits vorhergesehen und ihm einen kleinen Beutel, den er locker an seinem Gürtel befestigt hatte, gestohlen. Genauso grinsend halte ich ihm sein Eigentum hin. Das Teil ist ganz schön schwer und klimpert. Da ist sicher sein ganzes Kleingeld drin.
Ihm ist die Kinnlade auf den Boden geklappt. Hey, ich bin New Yorkerin, so etwas in der Art hat schon mal jemand mit mir bei Starbucks abgezogen.
Ich zeige auf die Verkäuferin. Nickend wirft er ihr das Geldstück zu und fordert seinen Beutel. Lächelnd werfe ich das Teil vor mir in die Luft und kicke es mit dem Fuß auf ihn zu. Der Beutel prallt hart an seiner Brust ab, was ihn abermals keuchen lässt. Da ich früher geturnt habe, habe ich mich gleich noch in der Luft gedreht und bin sauber gelandet.
Vollkommen entspannt binde ich mein Haar wieder zurück, greife nach meinem Kaffee und verlasse das Lokal. Diesen Finnen muss mal jemand Manieren beibringen. Ist doch nicht zu fassen, dass er mir an den Hintern gefasst hat.
In ein paar hastigen Zügen kippe ich das Koffein in meinen Schlund und verfrachte den Becher in einen Mülleimer. Ich merke gerade, dass an jedem Schaufenster, an dem ich vorbeikomme, ein echtes Hufeisen hängt. Die sind aber echt abergläubisch hier. Mein Blick wandert weiter. Neben den Verkehrsschildern stehen Tafeln mit vierblättrigen Kleeblättern in der Gegend herum. Meine Fresse.
Direkt vorm Buchladen pralle ich frontal in einen Körper. Fynn, der Austauschschüler vom Doktor, lächelt mich überrascht an. Er hat ein Mädchen dabei, das so blond ist wie er und ihn von der Seite anschmachtet. Das Püppchen ist alles andere als begeistert, dass ich ihr die Aufmerksamkeit abziehe, was mich ein böses Augenfunkeln ihrerseits kassieren lässt.
„Hallo Hope. Wie geht’s deiner Hand?“, will Fynn freudestrahlend wissen.
Ist eigentlich schon viel besser. Ich zucke nur mit den Schultern und will an ihm vorbei, da hält er mich am Arm zurück, den ich ihm gleich wieder wegziehe. Für meinen Geschmack habe ich heute schon genug Übergriffe von finnischen Muskelprotzen ertragen müssen.
Er räuspert sich unbeholfen. „Kommst du morgen zum Dorffest?“ Eher nicht. Hab bereits eine Überdosis Kitsch abbekommen. Wieder zucke ich gelangweilt mit den Schultern und lasse ihn einfach stehen. Nichts wie weg hier.
Ich weite meine Runde noch aus und laufe an vielen Häuschen vorbei, an denen ebenfalls Austauschschüler damit beschäftigt sind, Arbeiten zu verrichten. Wie viele gibt es eigentlich von ihnen? Das ist ja wie eine Invasion. Die ganze Stadt scheint nur noch aus Finnen zu bestehen.
Auf dem Rückweg komme ich an einer Klippe vorbei. Ich atme die frische Luft tief ein. Ausnahmsweise schalte ich sogar meinen mp3-Player aus, um den sich brechenden Wellen zu lauschen.
Das Knacken von Ästen hinter mir lässt mich aufschrecken. Okay, jetzt werde ich paranoid. Wahrscheinlich war das nur der Schatten eines Tieres, den ich am Waldrand gesehen habe. Oder ich spinne bereits – was viel wahrscheinlicher ist.
Der Schneefall ist stärker geworden. Aus dem böigen Wind ist ein ausgewachsener Sturm geworden. Ich habe Mühe, die Türe zum Haus zu schließen und stemme mich mit vollem Körpereinsatz dagegen.
Hier drin ist es so stickig heiß, dass ich mir die Laufjacke förmlich vom Leib reiße. Mein Onkel steht bereits, mit vor der Brust verschränkten Armen, vor mir.
„Wo warst du, Fräulein?“ Ist das nicht offensichtlich?
Da ihm die Erkenntnis nicht ins Gesicht geschrieben steht, helfe ich nach und halte ihm sogar meine Laufschuhe vor die Nase, als ich an ihm vorbeigehe.
„Du hast Hausarrest“, erklärt er mit erhobenem Zeigefinger. Ich zucke nur gelangweilt mit den Schultern. Bei dem Wetter kann man sowieso nirgends hin.
Im Wohnbereich finde ich die versammelte Mannschaft vor. So wie es aussieht, sind sie gerade dabei, die Jungs zu „unterhalten“. Emma und Lydia quasseln ohne Luft zu holen, während die Muskelprotze brav nicken.
Kopfschüttelnd schleiche ich mich vorbei. Ich brauch dringend eine Dusche – ich bin nicht mehr gesellschaftsfähig.
Sie sind augenscheinlich zu den Fotoalben übergegangen, als ich eine halbe Stunde später den Wohn-Essbereich betrete. Kurz hatte ich das Gefühl, einen Schatten am Fenster zu erkennen, tue es aber im nächsten Moment als optische Täuschung ab. Daraufhin falle ich fast über die Katze, die sich todesmutig vor meine Füße geschmissen hat, um sich schnurrend an mich zu kuscheln. Was für ein blödes Vieh. Wieso sucht sich das Ding kein anderes Opfer?
Die Jungs haben sich erneut höflich von ihren Plätzen am Tisch erhoben und unterbrechen kurz ihr Wackeldackel-Dauernicken.
„Sieh mal einer an. Hope beehrt uns mit ihrer geschätzten Anwesenheit“, spottet Onkel Tim.
„Hier, wir haben ein Foto von dir gefunden“, sagt Emma und hält mir ein Bild von einem meiner Turnwettbewerbe von vor zwei Jahren hin. Neben mir stehen Mum und Dad. Meine Eltern haben es wohl meinem Onkel geschickt. Von dem Foto löst sich eine Büroklammer und ein Zeitungsartikel segelt mitten auf den Tisch.
„ Eltern bei Explosion ums Leben gekommen. Tochter überlebt unverletzt.“
Ich pack das gerade nicht, versuche aber vollkommen emotionslos zu bleiben. Die Bilder, die normalerweise nur in meinen Träumen hochkommen, fluten meinen Kopf. Ich presse die Fäuste zusammen, bis die Knöchel weiß hervortreten.
„Turnst du eigentlich noch?“, fragt mich Claire. Das ist ein Ablenkungsmanöver, damit sie den Zeitungsausschnitt unbemerkt unter dem Tisch verschwinden lassen kann.
Bevor ich eine Regung zeigen kann, kreischen meine Cousinen bereits: „Zeig uns ein Kunststück. Bitte, bitte, Hope.“ Kunststück ? Glauben die etwa, ich bin eine Zirkusattraktion?
Lucien meldet sich zu Wort: „Das würde ich gerne sehen.“ Was du nicht sagst. Sie lassen nicht locker und bearbeiten mich von allen Seiten.
Vollkommen genervt gehe ich einige Schritte zurück und sprinte sogleich auf den Tisch zu. Meine Cousinen haben sich erschrocken, denn sie kreischen wild, aber da habe ich mich bereits mit meinem Fuß von der Tischkante in einen lockeren Rückwärtssalto katapultiert und bin sauber gelandet. Applaus setzt ein. Gelangweilt lasse ich mich im nächsten Augenblick auf die Couch fallen.
„Kannst du dich auch verbiegen? Zeig mal was“, fordert Lydia. Ich bin wieder dazu übergegangen, sie zu ignorieren, während ich versuche, diese anhängliche Katze, die sich andauernd an mich drängt, loszuwerden. Dabei niese ich mir die Seele aus dem Leib.
Claire befreit mich sogleich von dem Allergieauslöser und sperrt ihn in ein anderes Zimmer. Tschüss Putzi, auf Nimmerwiedersehen.
„Willst du dich nicht umziehen?“, fragt mich Lydia aufgeregt. Ich ziehe wieder ahnungslos die Schultern hoch.
„Na für die Bibelstunde in der Kirche“, informiert sie mich. Das kannst du vergessen. „Komm schon, das wird so ein Spaß.“ Meine Cousine zerrt sogar an meinem Arm. Bestimmt. Gut, dass ich Hausarrest habe.
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