Ein „Hast du dich verletzt?“ lässt mich die Arme vom Gesicht nehmen. Der nächste heiße Typ kniet über mir. Der hier hat aber schwarze Haare und Wimpern, für die jede Frau töten würde. Seine Züge sind so männlich, dass ich meinen Blick nur schwer abwenden kann. Halleluja jauchze ich in Gedanken, während ich mich hochrapple. Als Draufgabe stoße ich gleich noch einen Weihnachtsengel vom Regal, an dem ich mich hochziehen wollte. Er stürzt kopfüber zu Boden. Der Muskelprotz fängt ihn natürlich im freien Fall, schnappt mich auch noch gleich und zieht uns beide hoch. Unsere Blicke verfangen sich ineinander. Sag mal, wieso ist es plötzlich so heiß hier drin?
„Jetzt halte ich bereits zwei Engel in meinen Armen“, reißt mich aus dem Schmachten. Okay, Herzensbrecher-Alarm. Gegen solch schleimige Typen bin ich immun. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Im nächsten Augenblick reiße ich mich von ihm los und schüttle genervt die Sterne ab.
„Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lucien. Ich und zwei weitere Männer sind hier zu Gast.“ Männer? Der ist höchstens neunzehn. Auch er spricht in diesem eigenartigen Dialekt. Die stammen wohl alle aus demselben Land.
Unbeeindruckt lasse ich Mister Perfekt stehen und betrete den Wohn-Essbereich. Zwei weitere Jungs erheben sich synchron von der Couch. Einer von ihnen trägt eine Mönchskutte. Der andere hat braune, strubbelige Haare und scheint ebenfalls im selben Bodybuilding-Programm zu sein.
„Das sind Kadien und Tristan“, stellt sie Lucien vor. Beide nicken. Was für seltsame Namen.
Tristan – der Strubbelhaar-Muskelprotz – fragt: „Und wie ist dein Name?“
Ich habe Kopfschmerzen. Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden. Dementsprechend genervt trete ich ans Fenster und öffne es. Der Sturm weht Schnee herein. Ich frage mich, ob dieser kurze Moment reicht, um schockgefrostet zu werden. Den Gedanken verwerfe ich sogleich – meinen Chemiekurs reflektierend – während ich nach einer Handvoll Schnee vom Fensterbrett greife. Damit lasse ich mich, ihnen den Rücken zukehrend, auf den Hocker am Küchentresen sinken.
Mithilfe eines gezielten Schlages auf die Tresenkante öffne ich den Kronkorken der Colaflasche, die ich aus einem Automaten im Krankenhaus befreit habe, und nehme einen genüsslichen Schluck. Tut das gut. Mit der anderen Hand klatsche ich mir den Schnee an den pochenden Schädel. Die Kohlensäure lässt mich laut rülpsen. Ups. Ich hatte ganz vergessen, dass ich Gesellschaft habe. Hoffentlich haben sie es nicht mitbekommen – obwohl, das war ja kaum zu überhören.
„Hat sie gerade gerülpst?“, stößt einer von ihnen aus. Ich lächle. Das schickt sich in ihrer Glaubensgemeinschaft wohl nicht.
Die blöde Katze springt neben mir auf den Tresen und stößt mit ihrem Kopf an meinen. Dabei schnurrt sie so laut, dass es mir die Gänsehaut aufzieht. Der kurze Moment hat gereicht, einen erneuten Niesanfall zu provozieren, bevor ich sie vom Tresen schubsen konnte.
Plötzlich zieht jemand neben mir scharf die Luft ein. „ Was machst du da ?“ Onkel Tim hat die Augen weit aufgerissen. Hey, die Katze ist sauber gelandet. Die haben sowieso mehrere Leben.
Tim kommt auf mich zu und reißt mir die Flasche förmlich aus der Hand. „Was zum …?“ Sein Blick ist so ärgerlich, als hätte er mich gerade mit einer Flasche Bier erwischt.
„Das kommt mir nicht ins Haus“, erklärt er wütend. Hey , das ist ’ne Coke , kein Marihuana. Vor meinen Augen kippt er den Inhalt der Flasche in die Spüle. Da geht sie hin, meine Kaffee-Ersatzdroge.
„Hast du die Regeln nicht gelesen?“, knallt mir Onkel Tim vor den Latz. Nein, die müssen mir wohl, unter tonnenweise Deko begraben, entgangen sein.
„Du bist wohl eine Rebellin, Fräulein. Aber die Faxen werde ich dir schon noch austreiben.“ Viel Glück. „Du bist nicht vorzeigbar. Sieh nur, wie du aussiehst. So etwas kann ich meinen Gästen nicht zumuten. Geh in dein Zimmer !“ Stapf du mal stundenlang durch den Schnee.
Mal sehen, ob du dann noch vorzeigbar bist. Als ich nicht gleich reagiere, bäumt er sich vor mir auf.
„Mach schon Hope, ich werde mich nicht wiederholen“, droht er. Ich tu doch gar nichts. Lass mich doch noch ein bisschen auftauen, bevor ich auf den kalten Dachboden zurück muss.
Ein ungeduldiges „ Na warte , Fräulein“, gefolgt von seiner Hand an meinem Arm, die mich vom Hocker zieht, soll seinen Worten wohl Nachdruck verleihen.
Ich keuche vor Schmerz. Der Arm hat wohl auch etwas abbekommen. Onkel Tim lässt mich abrupt los und funkelt mich böse an. „Sag bloß, du hast dich auf dem Arm auch noch verletzt. Du machst wohl keine halben Sachen, was?“ Sieht ganz so aus.
Augenrollend lasse ich ihn stehen und steige die Treppen in mein Zimmer empor. Ich höre Onkel Tim noch beschwichtigen: „Verzeihung, sie ist hier nur zu Gast. Ignoriert sie einfach, wie wir es tun.“ Gute Idee, könntet ihr damit auch endlich mal anfangen?
In meinem Zimmer ist es eiskalt. Nachdem ich mich die halbe Nacht hin und her gewälzt habe, beschließe ich, erneut ins Wohnzimmer zu gehen.
Auf dem Weg nach unten trete ich auf ein unbekanntes Deko-Objekt. Mann , was für eine Todesfalle. Hier müssten lauter Schilder mit der Aufschrift: „ Vorsicht Deko – akute Lebensgefahr “ hängen.
Irgendwie habe ich es doch noch in einem Stück runter geschafft. Hier muss doch irgendwo etwas Essbares sein.
Ich versuche mein Glück in einem der Hängeschränke, den ich nach Schokolade durchforste. Natürlich bin ich zu klein und muss mich weit nach oben strecken, um heranzukommen. Nur noch ein paar Millimeter trennen mich von der Schachtel, in der ich Kekse vermute.
„Brauchst du Hilfe?“ Vor Schreck taumle ich zurück, löse eine Kettenreaktion aus und werde unter dem halben Schrankinhalt begraben. Nachdem es mich so richtig schön auf den Allerwertesten setzt wohlgemerkt.
Lucien ist schnell bei mir und fängt ein paar der schweren Sachen ab, bevor sie mich k. o. schlagen können. Er muss mich für einen absoluten Tollpatsch halten.
Dementsprechend belustigt sieht er auch aus, als er mir auf die Beine hilft. Ich erwidere sein Grinsen, während ich die Sachen aufhebe. Er hilft mir sogar dabei. Die Keksschachtel entreiße ich ihm aber, bevor er sie zurück in den Schrank räumen kann. Gierig versuche ich, an den Inhalt zu kommen.
„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ja genau, deshalb schleichst du dich auch von hinten an mich heran. Erst jetzt merke ich, dass er nur ein ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts trägt. Dabei fällt mir ein. Ich steh auch nur im Pyjama vor ihm. Unbeholfen versuche ich, das viel zu kurze T-Shirt über meinen Bauch zu ziehen. Die Tatsache, dass ich keinen BH trage, verdränge ich.
„Tim hat mir gesagt, dass dein Name Hope ist.“ Toll. Wen interessiert das?
Ich setze mich auf die Kücheninsel und lasse die Beine baumeln. Dabei stopfe ich mir unentwegt die harten Schokokekse rein. „Und, dass du nicht sprichst“, ergänzt er. Wunderbar. Sie reden über mich. Wahrscheinlich hat er ihnen noch gesagt, ich sei geistig unterentwickelt.
„Wie ist das passiert?“ Er zeigt auf den Verband, der meine rechte Hand ziert. Gänsehaut zieht sich über meinen Rücken. Ja, ich gebs zu. Als er vorhin hinter mir aufgetaucht ist, hatte ich kurz Angst, es wäre der Einbrecher.
„Hope?“ Seine Stimme holt mich aus meinen Gedanken und ich bemerke erst jetzt, dass er nähergekommen ist. Viel zu nahe, wohlgemerkt.
Warte, hey. Ich halte ihn mit der Faust an seiner Brust auf Abstand und schüttle warnend den Kopf. Mein erboster Blick soll ihm deutlich zeigen, dass er gerade in meinen Wohlfühlbereich eingedrungen ist.
Lucien hält inne, zieht aber im nächsten Augenblick etwas aus meinem Haar, das er mir vor die Nase hält. Deko-Alarm. Ein Strohstern hat sich in meinen Locken verfangen und nur auf den richtigen Moment gewartet, um mich hinterhältig zu piken. Genervt schnappe ich meine Mähne und durchpflüge sie mit den Fingern, dabei fällt noch ein weiterer Stern auf meinen Oberschenkel.
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