Jetzt zwingen sie mich echt dazu, den Wichtigtuer raushängen zu lassen. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tue so, als würde ich SMS tippen. Dass ich hier nicht mal ein Signal habe, weiß ja niemand und so kann ich die App aktivieren, die mein Spiegelbild auf das Display überträgt.
Natürlich sehe ich ihn durch die Kamera schon von Weitem hinter mir auf mich zukommen. Das ist ja echt übel – er hat einen Bierkrug in der Hand, den er mir wohl „ganz unabsichtlich“ über den Schädel kippen will. Hey, in meinem Krug war nur Wasser.
Eigentlich keine schlechte Idee – er macht das sogar ganz gut. Der Krug ist so voll, dass er langsame Schritte machen muss, um nichts zu verschütten. Noch ein Stück, dann ist er bei mir. Unbeholfen stolpert er über seine eigenen Füße und wankt auf mich zu.
Im selben Moment hechte ich auf die Bank, von dort auf den Tisch und springe aus dem Stand in einen Rückwärtssalto. Im Flug mache ich eine Schraube, die mich direkt hinter ihm landen lässt. Das hat ihn so überrascht, dass er sich erst nach ein paar Sekunden umdreht. Zu meiner Verblüffung setzt er an, den Plan zu Ende zu bringen und mir den Krug dennoch überzuschütten.
Jemand zieht mich im letzten Moment aus der Gefahrenzone und ich pralle gegen einen Körper. Das Bier plätschert melodiös auf die Stelle, an der ich noch vor zwei Sekunden stand.
Tumult bricht aus und der Typ wird von ein paar Finnen abtransportiert. Erst jetzt merke ich, wer mich da vor einer Bierdusche bewahrt hat. Es ist der Gothic-Typ mit den Dreadlocks, der mich kurz mustert, mich aber einen Wimpernschlag später einfach stehenlässt. Gutes Gespräch.
Ich lasse es mir nicht nehmen, dem Grapscher einen belustigten Blick zuzuwerfen, bevor ich mich vom Acker mache. Der Kerl sieht nicht sehr begeistert aus. Ich bin gespannt, welche Gemeinheiten er noch für mich auf Lager hat.
Vor einer der Hütten erkenne ich Onkel Tim mit dem Pfarrer, die in eine rege Diskussion vertieft sind. Lucien ist auch bei ihnen. Mich würde ja brennend interessieren, über was die reden.
Ich schleiche mich an den Marktständen vorbei und trete an die Rückseite der Hütte, vor der sie diskutieren.
„Das kannst du nicht tun, Tim“, meint der Pfarrer.
„Es geht hier um meine Kinder, Josef. Du würdest auch alles tun, um dein eigen Fleisch und Blut zu beschützen.“ Mann, jetzt tritt er die Sprayer-Geschichte wieder breit.
„Aber sie ist deine Nichte.“ Hey, da geht’s um mich. Was ist denn nun schon wieder?
„Niemand wird sie vermissen. Wir sagen einfach, sie ist wieder in eine Irrenanstalt eingeliefert worden. Das würde niemand hinterfragen.“ Mein Herz pocht laut in meiner Brust. Was haben die vor?
„Sie werden sich höchstwahrscheinlich auf keinen Handel einlassen“, wendet Lucien ein. Handel ?
„Ich gebe ihnen aber keins meiner Babys. Sie können die Verrückte haben, aber nicht Emma oder Lydia“, verkündet mein Onkel. Wer kann mich haben?
„Tim, jetzt beruhige dich“, beschwichtigt der Geistliche.
„Ich beruhige mich nicht, Josef. Wenn es sein muss, zerre ich sie eigenhändig zum Steinkreis.“ Was ? Welcher Steinkreis?
„Tim“, stößt Lucien aus. „Wir bewachen deine Töchter Tag und Nacht. Ihnen kann absolut nichts passieren. Deshalb sind wir hier.“ Hä ? Ich dachte, die wären Austauschschüler.
„Die sind gewitzt. Ich sage dir, sie werden nicht aufgeben, bevor sie nicht haben, was sie wollen“, schnaubt Tim.
„Trotzdem sollten wir es vorerst dabei belassen“, rät ihm Lucien. So, jetzt reichts.
Wütend scanne ich die Umgebung nach dem schwächsten Glied in der Kette ab und werde prompt fündig. Kadien, der Mönch, steht bei einer Hütte und isst eins dieser Riesenbrote. Ich krame in meiner Tasche nach einem Stift und bereite eine Nachricht für ihn vor.
Dann setze ich meine lieblichste Miene auf, während ich an ihn herantrete. Er verschluckt sich sogar fast an einem Bissen. „Hope, wie kann ich dir helfen?“ Das kam so unsicher rüber, dass ich sogar lächeln muss.
Ich zerre leicht an seinem Arm. Daraufhin tue ich so, als würde ich ihm kurz etwas zeigen wollen. Stirnrunzelnd legt er sein Brot ab. „Brauchst du Hilfe?“ Ich nicke. Widerwillig folgt er mir.
Ich führe ihn zu den entlegenen Klohäuschen und öffne eine der Türen. „Was soll ich denn da drin?“, fragt er und macht einen Schritt darauf zu. Mann, ich glaubs nicht, dass er auf den ältesten Trick der Welt reinfällt.
Im nächsten Augenblick schubse ich ihn rein, quetsche mich ebenfalls dazu und verriegle die Tür. Als er sich panisch umdreht, packe ich ihn an der Kutte und presse ihn energisch an die Wand. Nach seinem Blick zu urteilen, denkt er, ich will gleich über ihn herfallen. Bei ihm hat bereits Schnappatmung eingesetzt. „Tu mir nichts, Teufelsweib.“ Ich lächle und knalle ihm die vorbereitete Botschaft hin.
Was zum Teufel ist hier los?
„Ich weiß nicht, was du meinst“, stößt er vollkommen unglaubwürdig aus. Guter Versuch Cowboy.
Ich kralle mir den Zettel und schreibe: Willst du dem Teufel an meinem Körper Hallo sagen?
Er zieht scharf die Luft ein, nachdem ich schon meine Jacke abstreife, die ich an den Haken an der Tür hänge. Ich bluffe natürlich nur, aber das weiß er ja nicht.
Daraufhin kralle ich mir erneut seinen Kragen. Er beschwichtigt: „Ich weiß es wirklich nicht.“
Ich lächle erneut und ziehe meinen Pullover aus. Darunter trage ich noch ein Trägerleibchen, doch er ist jetzt schon vollkommen eingeschüchtert.
Wieder presse ich ihn gegen die Wand. „Zwing mich nicht dazu, Hope. Sie haben mir gesagt, ich darf dir nichts erzählen.“ Volltreffer.
Rück endlich raus. Okay, du hast es so gewollt. Ich setze schon an, mir den Stoff über den Kopf zu ziehen, da knickt er ein und packt aus: „Bitte, ich will das nicht sehen. Ich sags dir ja schon. Tim will dich anstatt einer seiner Töchter ausliefern.“ Ausliefern ?
Schnell kritzle ich die Gegenfrage:
An wen denn?
„An den Schwarzen Orden . Sie kommen alle dreißig Jahre in dieses Dorf und nehmen eine Tochter mit. Sie markieren das Haus der Erwählten mit einem schwarzen Kreuz und holen sie dann.“ Was zum Henker ist denn das für eine Geschichte?
Ich kritzle: Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?
„Nein, es ist die Wahrheit.“
Was ist der Schwarze Orden und wieso wollen sie mich zum Steinkreis bringen?
„Der Orden ist eine Gesellschaft der mächtigsten Männer unserer Zeit. Sie gehören zur heiligen Inquisition. Der Steinkreis verbindet unsere Zeiten miteinander.“ Inquisition ?
Was meinst du mit „unsere Zeiten“?
„Na die Zeit, in der wir leben, und eure Zeit.“
Es gibt nur eine Zeit und die läuft gerade hier ab.
„Nein, wir kommen aus einer Epoche, lange vor dieser Zeit. Der Steinkreis erlaubt uns, zwischen den Zeiten zu reisen.“ Er spinnt total. Ich glaube, er hat zu viel Weihrauch inhaliert. Das weicht einem sicher das Gehirn auf.
Wer seid ihr?
„Na wir sind Kelten. Ist das nicht offensichtlich?“ Kelten ?
Du hast sie nicht mehr alle.
„Ich weiß nicht, was das bedeutet.“
Du willst mir also sagen, diese Kelten-Steinkreis-Scheiße aus den Groschenromanen stimmt tatsächlich?
„Ich weiß nicht, was Groschenromane sind, aber wir kommen von dort. Wir Keltischen Krieger sind hier, um die Töchter dieser Stadt davor zu beschützen, gestohlen zu werden.“ Das Beste ist, er glaubt den Scheiß tatsächlich, den er da von sich gibt. Naja, das würde zumindest die geballte Muskelmasse erklären, die ins Dorf eingefallen ist.
Was passiert mit den gestohlenen Frauen?
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