„Was zum …?“ Mein Onkel ist wohl wenig begeistert über meinen Zustand. „Was hat sie nun schon wieder angestellt, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen? Das Kind treibt mich noch in den Wahnsinn. Am besten man sperrt sie wieder in eine Gummizelle.“ Wie überaus nett. Danke, dass du mich schon wieder als Irre hinstellst. Was bist du denn für ein Onkel?
Ich stöhne, weil meine Hand schmerzvoll pocht. Die Autofahrt bekomm ich bloß bruchstückhaft mit. Ausschließlich der Nähe zu Lucien, in dessen Nacken mein Kopf ruht, bin ich mir nur allzu bewusst.
Der Kälteschock vor dem Haus des Arztes reißt mich aus meinem Schlummern. Haben die mir etwa keine Jacke angezogen?
„Was ist denn mit deiner Nichte passiert, Tim?“, höre ich den Doktor rufen.
„Sie hat sich selbst verletzt“, stößt mein Onkel ärgerlich aus. Ja genau, ich hab mir selbst eine verpasst.
„Fynn, leg sie ins Behandlungszimmer.“ Na toll. Ich werde in die Arme seines Schülers übergeben. Eigentlich wollte ich wütend knurren, wie mein Angreifer, aber mehr als ein Stöhnen ist nicht dabei herausgekommen.
Unter mir spüre ich ein Bett. „Hope, kannst du die Augen aufmachen?“ Ich versuchs. Sie wollen einfach nicht offenbleiben, daher verschwindet Fynn die ganze Zeit wieder. Ich spüre, dass mein Kopf am Kinn zur Seite gedreht wird. Energisch stoße ich seine Hand weg – zumindest glaube ich, das zu tun.
„Schon gut. Beruhige dich.“ Er spricht mit mir, als wäre ich eine Zwangsjackenträgerin. Das macht mich so wütend, dass ich die Augen aufreiße und ihn am Kragen packe. Dabei hinterlasse ich rote Spuren auf seiner Kleidung. Verblüfft erkenne ich, dass in meiner Hand zahllose Holzsplitter stecken. Abrupt lasse ich von ihm ab. Immer noch benommen versuche ich, mich aufzurichten.
„Ganz langsam, Hope. Du bist verängstigt und solltest dich beruhigen.“ Fuchsteufelswild kralle ich mir den Kugelschreiber aus seinem weißen Mantel und schreibe auf die Papierauflage des Behandlungsbettes:
Hör auf, mit mir zu sprechen, als wär ich verrückt. Ich wurde angegriffen.
Fynn liest es und sagt: „Natürlich. Komm, lass mich dir helfen.“ Er glaubt mir kein Wort. Seine Hand will nach meiner greifen, aber ich stoße ihn weg und schreibe:
Hör auf damit.
„Ich will dir nur helfen, Hope.“ Kopfschüttelnd kritzle ich.
Nein, willst du nicht.
„Hope, bitte lass mich deine Hand jetzt verarzten.“ Ich nicke und höre auf, mich dagegen zu wehren. Ich muss mich schön langsam damit abfinden, dass mich hier alle für geistesgestört halten.
Ich schnaube, als er den ersten Splitter rauszieht. Toll. „Ich werde ganz vorsichtig sein.“ Ja, das nützt mir auch nichts. Meine Hand zuckt schon, bevor er den nächsten herauszieht, aber ich beiße die Zähne zusammen.
Nach einer gefühlten Stunde voller Qualen ist er dazu übergegangen, meine Schläfe zu kühlen. Dabei weicht er meinem Blick ständig aus. Auch er hat sich verändert.
Ich bin müde, enttäuscht und vielleicht grad etwas emotional, daher schafft es eine Träne, sich aus meinem Augenwinkel zu lösen.
Fynn hat es natürlich gesehen und kommentiert es mit den Worten: „Du solltest deinen Kummer jemandem anvertrauen. Der Pfarrer hört dir sicher zu. Er ist ein netter Mensch.“ Gefühlte Minuten ringe ich damit, das vorherrschende Verlangen zu unterdrücken, ihm eine reinzuhauen. Ich dachte, er schlägt sich selbst vor. War klar, dass er kein Interesse an einer Bekloppten hat. Verletzt stecke ich ihm den Kugelschreiber zurück in seine Tasche und rutsche vom Behandlungsbett.
„Hope, warte.“ Worauf denn, dass du mir Beruhigungsmittel spritzt und mich Frankenstein zur weiteren Erforschung übergibst? Genervt schlage ich die Türe hinter mir zu. Mein Onkel und Lucien warten im Nebenraum.
„Du bist ja schnell wieder auf den Beinen. Ich kann mir vorstellen, dass es auf Dauer anstrengend ist, dieses Theater aufrechtzuhalten“, spottet mein Onkel. „Ach übrigens, die Arztrechnungen bezahlst ab jetzt du“, ergänzt er grinsend. Ohne Worte – echt.
Die gesamte Autofahrt spricht mein Onkel kein einziges Wort. Zu Hause angekommen lassen sie mich einfach im Flur stehen und gehen schnurstracks in ihre Zimmer.
Hey, ihr seid doch echt gemein. Ich will nicht allein in mein Zimmer rauf. Was, wenn er zurückkommt? Erschöpft sinke ich an der Garderobe entlang und kralle meine Finger in meine Haare. Etwas Schnurrendes windet sich um meine Beine. Wenigstens ein Familienmitglied, das mir glaubt.
Als die Allergie einsetzt, gehe ich rauf in den ersten Stock. Alle schlafen schon, nachdem ich aus dem Badezimmer trete. Um nichts in der Welt gehe ich da wieder hoch. Ich beschließe, heute Nacht im Wohnzimmer zu pennen. Da ist es wenigstens schön warm.
Ich will kein Licht machen, damit sich mein Onkel nicht noch mehr aufregt, wenn er mich hier unten erwischen sollte, also wärme ich mich ein bisschen am Tischherd und trete an die Couch heran. Vollkommen fertig lasse ich mich darauf fallen und vernehme ein „Uff“ unter mir. Da liegt jemand. Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf und falle vor Schreck rückwärts über den Couchtisch, was meinen Körper hart auf den Boden aufschlagen lässt. Grelles Licht blendet im nächsten Moment meine Augen.
Als ich Lucien in Boxershorts über mir erkennen kann, frage ich mich, wie viele Beinahe-Herzinfarkte ein Organismus an einem Tag verkraftet.
„Hope, hast du dir wehgetan?“ Ich schüttle den Kopf, setze mich auf und raufe mir die Haare.
Ich zeige mit einem irritierten Gesichtsausdruck auf die Couch, daraufhin erklärt er: „Es gibt nicht genug Zimmer. Ich schlafe hier unten auf der Couch.“ Wunderbar.
„Wolltest du hier unten schlafen?“ Ich hebe beide Hände abweisend hoch. Das soll heißen, dass ich mir was anderes suche, da ja hier offensichtlich schon besetzt ist.
„Hast du Angst da oben?“ Das sagt er so, als würde er mit einer geistig Zurückgebliebenen sprechen. Das hab ich echt nicht nötig. Wütend verlasse ich den Raum.
Die Badewanne ist als Schlafquartier zwar abartig, aber keine zehn Pferde bringen mich heute Nacht in mein Zimmer.
Der Vorteil, wenn man in einer zutiefst abergläubischen Kleinstadt von allen für eine verrückte Teufelsanbeterin gehalten wird, ist, dass man am rammelvollen Dorffest einen Tisch ganz für sich allein hat. Es ist mir eigentlich scheißegal. Hauptsache, sie hatten eiskalte Colaflaschen, von denen ich mir gerade eine an die pochende Birne halte. Der Einbrecher hat mich ganz schön niedergemäht.
Nach ein paar Minuten wagt sich ein Todesmutiger vor und nimmt mir gegenüber Platz. Es ist der Grapscher vom Café, der mich mit zusammengekniffenen Augen mustert.
„Wir haben noch eine Rechnung offen“, stößt er arrogant aus.
Vollkommen unbeeindruckt knalle ich die Cola vor ihm auf den Tisch. Dabei spritzt etwas aus der Flasche und trifft ihn am Ärmel. Ups. Das tut mir aber leid, du abartiger Idiot. Jetzt zieh Leine.
Seine Kiefermuskulatur zuckt. Der Typ hat sichtlich Mühe, mich nicht gleich über den Tisch zu ziehen, um seine Rechnung hier und jetzt zu begleichen.
„Pass auf deinen Rücken auf, du verrücktes Weib“, rät er mir und stößt sich am Tisch ab. Ich rolle mit den Augen, während ich mir die Flasche erneut an die Schläfe drücke. Pass auf deine Gehirnzellen auf, damit du nicht auch noch die letzte verlierst.
Natürlich sehe ich es ihm an der Nasenspitze an, dass er etwas gegen mich plant. Sie tun zwar so, als würden sie saufen, stecken aber die Köpfe tuschelnd zusammen. Das sollte einen bei Jungs immer stutzig machen. Einer von ihnen löst sich aus der Gruppe und verschwindet sogleich. Ich rolle erneut mit den Augen. Was für Matschbirnen.
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