Wenn ich Bremme sehe – und der Herr Bürgermeister erscheint ja recht oft im Odysseus -, bleibt mir überhaupt nichts anderes übrig, als immer an die verdammten Kartoffeln zu denken, wenn ich aber andererseits eine Kartoffel erblicke – und das ist leider täglich der Fall, weil ich in dieser Stadt ja sonst elend verhungern würde – dann sehe ich alsbald den Bürgermeister vor mir: Kein Wunder, dass mein Appetit dadurch empfindlich gestört wird, zwischendurch kommt es mir manchmal beinahe so vor, als würde ich einen Einheimischen verspeisen.
Ist das nun eine Überempfindlichkeit meinerseits, bin ich vielleicht zu feinnervig für diese Welt? Hättet ihr mich niemals nach Goldenberg schicken dürfen? Vielleicht. Mit den verschiedenen hier angebotenen Käsesorten ergeht es mir nämlich ganz ähnlich. Auch von dieser Seite wird mein Appetit attackiert, weil nämlich zwischen dem Käse und den Einwohnern dieser Stadt ebenfalls ein unbestreitbarer Zusammenhang besteht. Oberflächlich betrachtet, gehören die Goldenberger der weißen Rasse an - so jedenfalls pflegen sie selbst zu sagen -, doch kommt mir diese Selbstbeschreibung inzwischen ziemlich dürftig und ungenau vor; viel richtiger scheint es mir, sie als eine Kollektion wandelnder Käsesorten zu sehen. Ganz wie bei diesen Milchprodukten changiert die Haut der Einheimischen nämlich zwischen parmesanartigem Gelb bis hin zum bleichen Schlagsahneweiß; manchmal fühle ich mich bei ihrem Anblick auch an den mondkalten Schnee erinnert. Der Anblick tut mir, ehrlich gesagt, nicht sonderlich gut, obwohl ich mich mit der Zeit und notgedrungenerweise langsam an ihn gewöhne. Das Käsegelb mancher alter Gesichter verstört mich, das Schneeweiß dagegen wirkt sogar noch schlimmer auf meine Gefühle – ich meine, so anheimelnd wie ein Leichentuch.
Ob ihr es glaubt oder nicht, liebe Auftraggeber, liebes Komitee, liebe Stammesgenossen: Schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft habe ich mich abends nackt vor den Spiegel gestellt und mich ausgiebig von unten bis oben betrachtet. Voller Dankbarkeit gegen den Schöpfer habe ich ihn dafür gepriesen, dass er meiner Haut die edle Tönung einer aufgehellten Schokolade verlieh. Welch ein Genuss, welch eine Erholung, welch eine Wohltat für ein kunstsinniges, auf Harmonie bedachtes Auge!
Natürlich gebietet mir die Höflichkeit gegenüber den Eingeborenen Goldenbergs, dass ich aus meinem Herzen eine Mördergrube mache - mit anderen Worten, verrate ich ihnen nichts von meinen Empfindungen, aber in Wahrheit bedaure ich sie. Sie nennen sich, wie schon gesagt, die weiße Rasse, andere drücken sich mit einem Fremdwort aus und sprechen von weißer „Ethnie“, was, wie mir scheint, dasselbe heißt, aber Unrecht haben sie dennoch in jedem Fall, denn sie sollten sich eher als die Schnee-, Milch- oder Käserasse bezeichnen, und sollten und müssten dann eigentlich auch gestehen, dass hier eine Abweichung von der Norm vorliegt, eine Verirrung der Natur, möchte ich sagen, die - wie den Eingeweihten seit langem bekannt - nur in den unwirtlichen Teilen des Globus entstehen konnte, ich meine dort, wo Schnee, Eis und Kälte dem Menschen die Lust am Dasein derart vergällen, dass eine Frau wie Frieda Torbrück, die Pastorin, eben überhaupt nicht mehr lachen kann.
Nein, das sage ich ihnen nicht ins Gesicht – ich will mir ja keine Feinde machen -, aber es sollte ihnen doch eigentlich bekannt sein, dass der Mensch aus Afrika kommt, und dort hätte er auch bleiben sollen, weil ihn die Natur nur auf diesem glücklichen Kontinent so üppig mit Wärme versorgt, dass er das alte Affenfell von sich werfen und sich in seiner haarlosen Nacktheit trotzdem pudelwohl fühlen konnte, und zwar geschmückt mit einer prächtig glänzenden, samtigen, schokoladebraunen bis ebenholzschwarzen Haut. Was hat ihm, möchte ich euch fragen, nur den Spleen eingegeben, von welcher Gier wurde er damals getrieben, als er die heiteren Savannen verließ, um sich in Richtung Norden aufzumachen? Dort, in den frostigen Zonen, hatten sich doch längst andere Bewohner niedergelassen; das furchtbare Mammut zum Beispiel, die grässlichen Säbeltiger und ähnliche Ungeheuer. Um nicht von ihnen verspeist zu werden, griff der Einwanderer zur bewährten Taktik der Evolution. Er praktizierte Mimikry. Um in den schneebedeckten Weiten nicht aufzufallen, ich meine, um für seine Feinde möglichst unsichtbar zu sein, wurde seine schöne braune Haut zunächst blasser, dann wurde sie bleich bis käsefarben, bis sie am Ende so leichenweiß war wie der Schnee.
Nein, schöner ist der Afrikaner dabei gewiss nicht geworden! Wenn ihr euch durch eigenen Augenschein davon überzeugen wollt, dann blickt doch den Bremme an! Er wurde auch keineswegs glücklicher. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann schaut doch die Torbr ein leichter Wind aber verhindert, dass die Hitze drückend wurde, überhaupt war das in nsekten, ein leichter Wind aber verhin dück an! Ich für mein Teil wundere mich überhaupt nicht, dass bei manchen Völkern Weiß als Farbe des Todes gilt.
Aber zurück zu der hier versammelten Runde! Während Bremme und Torbrück ihren knappen Wortwechsel führen, haben sich schon andere Gäste um den eichenen Tisch versammelt. Meine Aufgabe besteht darin, jedem von ihnen eines der großen goldblinkenden Gläser vor die Nase zu stellen. Die Sonne bricht an diesem Märztag hin und wieder zwischen den Wolken durch, dann bringt ihr Strahl die Gläser zum Funkeln und küsst meine Haut mit einem Hauch von Wärme, aber zwischendurch fährt der Westwind durch die Laube und lässt mich erschauern. Es kommt mir vor, als würde der Wind mit seinen kalten Fingern mir bis ins Mark unter die Haut vordringen, obwohl ich doch über dem Hemd die rotkarierte Uniform des Odysseus trage. Ich sage euch, dieses Wetter ist wirklich ein Grund, um mein eigenes und das Los der Eingeborenen zu beklagen.
Mai, 4 Monate vor Erbauung des Gump;
Seelentemperatur: jaulender Wildhund;
Geisterkontakt: keine Verbindung;
Witterung: zum ersten Mal einschmeichelnd warm.
Inzwischen weile ich schon zwei Monate in der Fremde, wo ich täglich den Mächtigen dieser Stadt aufwarte, die gerade wieder im Begriff sind, ihre vorbestellten Plätze zu besetzen, wobei ich - beinahe unsichtbar in meinem diskreten Schokoladenbraun und unbemerkt auch schon aufgrund meiner Stellung als dienendes Element - diesen Gesprächen mit feinem Ohr lausche; nein, es entgeht mir fast nichts, ich bin ja, um es ganz offen auszusprechen, eine Art von Spion mit dem Auftrag, ein Rätsel aufzuhellen, nämlich die wundersame, manchen völlig unbegreifliche Geistesverfassung der Menschen von Goldenberg.
Wie gesagt, befinde ich mich mittlerweile schon nahezu drei Monate unter den Einheimischen und kann euch versichern, dass mein Staunen seitdem nur gewachsen ist - nein, aus dem Staunen ist sogar eine sich ständig steigernde Verwirrung geworden, denn wie gefährlich ich hier in Wahrheit lebe, das weiß ich erst, seitdem ich das große, leere Haus mit der in der Sonne funkelnden Spitze aufsuchte, ich meine die Geisterschachtel. Meine Mission macht mir diese Kühnheit zur Pflicht, ich muss einfach wissen, was sie da an ihren Feier- und Sonntagen so treiben.
Was ich dort erlebte, ist wahrhaft seltsam genug! Die Leute verändern sich dabei so sehr, dass ihr sie kaum wiedererkennen würdet. Der Stadtobere und, wie ich glaube, mein Gönner, Bürgermeister Bremme zum Beispiel und der Chemiker Angus Saase haben, solange sie im Odysseus sitzen, der zweite eine unangenehm schnarrende Stimme, so wie wenn jemand mit einer Säge Pappe schneidet, der erste ein Fistelorgan, so wie wenn einem Anfänger der Bogen auf einer Geigensaite ausrutscht.
Wie gesagt, so kenne ich sie aus der Laube an den Gasttischen des Odysseus, aber in der Kirche waren sie völlig verwandelt, nicht wiederzuerkennen, einfach von Grund auf ausgewechselt! Beide hatten dort weit geöffnete Münder, es sah wirklich unheimlich aus, aber sie öffneten sie nicht, um zu schnarren bzw. um auf der Saite eines Streichinstruments ungeschickt auszurutschen, sondern um aus voller Brust ihre Verehrung für den Geist in den Raum zu schmettern – so etwas habe ich in meinem Leben noch nie gesehen und auch niemals gehört. Dabei schienen sie richtig glücklich zu sein wie kleine Kinder, denen man mit süßen Näschereien gerade eine besondere Freude macht; einigen unter den Singenden rannen sogar Tränen über die Wangen.
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