Welche Gründe ihr tiefer Ernst auch haben mag, unbestreitbar ist meine Beobachtung, dass die Pastorin niemals von jener lauten Pierfröhlichkeit überwältigt wird, welche selbst die seriösesten Eingeborenen Goldenbergs hin und wieder ergreift, zumal an einem etwas weniger kalten und sogar sonnigen Märztag wie diesem, wo die Natur selbst ihren Ernst ablegt: Man braucht doch nur auf den Brunnen unter der Laube zu blicken, wo aus dem weit geöffneten Maul eines marmornen Fisches glitzernde Wasserfontänen in allen Farben des Regenbogens in die Höhe schießen. Der Himmel scheint zu einem schüchternen Lächeln aufgelegt, nur die Gottesfrau Torbrück bleibt so ernst, wie sie es immer ist.
Bremme, wendet sie sich gerade dem Bürgermeister zu, Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns auf ganz dünnem Eis bewegen; wenn die Stadt nichts unternimmt, dann ist nicht nur der Friedhof betroffen, wo die Gräber am westlichen Saum schon in die Tiefe sinken, das können wir noch verkraften, aber irgendwann wird der Boden auch unsere Kirche verschlingen. Können Sie das vor den Bürgern verantworten? Ich frage Sie, wie werden sie am jüngsten Gericht vor unserem Herrn dastehen?
Ich habe ihre Worte ganz deutlich vernommen, obwohl die Torbrück sehr leise sprach, denn offenbar wollte sie nicht, dass man sie an den Nachbartischen versteht. Wie immer, wenn ich die Gottesfrau höre, spricht sie in einem anklagenden, leidendem Ton - so redet sie auch von der Kanzel. Doch habe ich einen Unterschied zweifelsfrei feststellen können: Wenn sie in der Kirche drei Meter über einer ihr ergriffen lauschenden Menge schwebt, dann mischt sich in den klagend-anklagenden Ton noch etwas Festes, Unerschütterliches, ein Strang aus schwingendem Metall möchte ich es nennen, der schwingt dann wie ein tiefer Gong in ihrer Stimme mit, als würde sich, sobald ihre Rede aus dieser Höhe kommt, eine innere Verwandlung, eine Art Verklärung in ihr vollziehen. Sie steht dann auf gleicher Höhe mit dem größten der Kirchengeister, ich meine mit der hölzernen Figur, die sie den Gekreuzigten nennen und der, für alle sichtbar, den weiten Raum des Kirchenschiffs gegenüber dem Eingang als Blickfang und Botschaft begrenzt. Ich habe es selbst gehört und mit eigenen Augen gesehen: In diesen Momenten der Verwandlung, wenn sie im Talar aus der Höhe zu den Gläubigen spricht, dann gleicht sie den Engeln auf den Bildern rechts und links an den hohen Wänden, nur dass sie nicht in die Posaune bläst, dann ist sie nicht länger die unscheinbare Privatfrau Frieda Torbrück, sondern der Geist scheint in sie zu fahren und durch ihren Mund zu reden. Dennoch muss ich der Wahrheit gemäß bemerken, dass sie selbst dann nicht aufheiternd wirkt, und ich glaube auch, jetzt schon zu wissen, warum selbst dann kein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheint. Der Geist, den sie verehrt, hängt nämlich an einem Kreuz, festgenagelt an Händen und Füßen, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Zu ihm schaut sie immer wieder hinüber; ich meine, es ist ihr ja schon von weitem anzusehen, wie sehr sie unter diesem Anblick fortdauernd leidet.
Wie ich die arme Torbrück bedaure! Wäre sie nicht in Goldenberg aufgewachsen, sondern in meiner Heimat, dann würde sie tanzen und lachen. Bei uns sind die Menschen selbst dann noch zum Tanzen aufgelegt, wenn sie traurig und unglücklich sind. Bei uns hätte die Torbrück einen fröhlichen, einen lustigen, schelmischen und zu Tollheiten aufgelegten Gott kennengelernt, und sie hätte gewiss ebenso zu tanzen begonnen, denn wie sagte Zaragomb, unser vor allen anderen berühmter Medizinmann: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere.“
Die arme Frau Torbrück versteht nicht zu tanzen, sie wird vom Geist der Schwere verfolgt, der sie immer nur das Leid und die Qual sehen lässt. Nein, die Goldenberger haben es wahrhaftig nicht leicht - so viel habe ich schon begriffen.
Ich habe es, so glaube ich, recht schnell begriffen, weil ich meine Mission, euren Auftrag, sehr ernst nehme und ihn in aller Gewissenhaftigkeit erfülle: Keine Gelegenheit lasse ich mir entgehen, um tiefer und tiefer in die Psyche der Eingeborenen vorzudringen. Deshalb musste ich mich natürlich auch in das Haus vorwagen, dessen glitzernde Spitze bis zu Tisch drei, Platz zwölf zwischen den Kronen zweier Kastanien wie ein erhobener Zeigefinger zum Odysseus herunterblinkt. Dieses Haus ist die meiste Zeit, ja eigentlich die ganze Woche mit Ausnahme des Sonntags und der Feiertage, nichts anderes als eine mächtige, von roten Backsteinwänden umschlossene Leere, die freilich von oben durch ein spitzes Dach vor Regen und Unwetter bewahrt wird. Merkwürdigerweise tritt diese Leere in Gestalt eines weit über das Land hinausschauenden Turms überaus selbstbewusst in Erscheinung, was zusätzlich noch dadurch bekräftigt wird, dass sie sich an besagten Sonn- und Feiertagen mit dröhnendem Glockengetöse bemerkbar macht. So weit mir inzwischen bekannt, wird der gewaltige Hohlraum gewöhnlich nur von Unsichtbaren bewohnt, die dort aber nur selten verweilen, ich meine, weil es ja viele derartige leerstehende Bauten in ihrem Lande gibt, wo die Unsichtbaren nach den Regeln der Logik doch keinesfalls zur gleichen Zeit präsent sein können! Deshalb wird das steinerne Gehäuse im Grunde nur einmal pro Woche von irdischen Wesen genutzt, nämlich den Goldenbergern, die dann der klagend-anklagenden Stimme der Frau Pastor lauschen.
Mir fällt es immer noch schwer zu begreifen, warum ein Haus, das allenfalls einmal in der Woche - und auch dann nur für wenige Stunden - bewohnt wird, eine so gewaltige Größe aufweisen muss, während die Wohnstätten der Stadtbewohner im Vergleich dazu geradezu winzig sind? Geht es vielleicht nur darum, der Frau Pastor einen Ort für ihre wundersame Verwandlung zu bieten? Diese selbst, ich meine, die Verwandlung, ist ganz unbestreitbar – ich war in dem Haus, ich habe es mit eigenen Sinnen erlebt. Sobald sie die Kanzel bestiegen hat und dann drei Meter über dem Boden und den Köpfen der Menge schwebt, wird der gewaltige Raum zu einem großen widerhallenden Körper, in den sie ihre metallisch gehärteten Worten wie die schweren, glänzenden Schläge eines Gongs hineindonnern lässt – mitten in die Seelen der Lauschenden.
Hier im Odysseus ist die Pastorin allerdings eine ganz gewöhnliche Frau, selbst der Anblick „ihrer“ Kirchturmspitze und wie diese so schön in der Nachmittagssonne glitzert, vermag sie nicht so zu verwandeln, dass sie Bremme gegenüber ihrer Forderung das nötige Gewicht zu geben vermöchte. Hier im Odysseus ist sie so unscheinbar wie jeder andere auch, ihre Stimme wird eben nicht durch einen Resonanzkörper aus roten Backsteinen verstärkt, hier blickt ihr der große Geist nicht über die Schulter, um ihr das richtige Wort ins Ohr zu flüstern. Bürgermeister Bremme neigt jedenfalls nur bedachtsam den großen Kopf. Mit dem durchtrainierten Gespür des erfahrenen Politikers für Ansinnen, die er ernst nehmen, und solche, die er getrost überhören darf, ist er sich sofort darüber im Klaren, dass ein beifälliges Nicken, das ihn zu nichts verpflichtet, in diesem Fall eine hinreichende Antwort sei.
Wir sind eine christliche Stadt!, sagt Bremme und unterstreicht diese Aussage mit einem kollegialen Lächeln, ich sage Ihnen, eine durch und durch christliche Stadt. Am Tag des Jüngsten Gerichts werde ich dort oben voller Stolz die Stadtbilanzen vorlegen. Sie können mir glauben, meine liebe Frau Torbrück, dass alle Posten vollkommen in Ordnung sind. Auch Sie sind bestimmt nicht zu kurz gekommen. Ich darf behaupten, meinem Herrgott mit gutem Gewissen gegenüber zu treten.
Liebes Komitee, ihr wisst, dass ich eine sensible Natur bin und es mich daher eine gewisse Anstrengung, ja Überwindung kostet, dem Herrn Bürgermeister ins Gesicht zu schauen, weil mich sein Kopf einfach zu sehr an eine hier beliebte Feldfrucht erinnert, ich sagte schon, dass einige dieser Früchte sich einer nahezu perfekten Kugelform erfreuen, andere sehen dagegen wie ausgefledderte Bälle voller Tumore und Buckel aus – und nach dieser Spielart ist leider der Schädel des Herrn Bürgermeisters geraten, der nur einmal einen liederlich geschälten Eindruck macht, weshalb die Augen eines empfindsamen Betrachters – ich meine in diesem Fall meine Augen – von vornherein unschlüssig sind, wohin sie sich wenden sollen: auf die käsebleichen Stellen seiner Nase und Wange oder den schwarzen Pelz von Bart und Haaren, der sozusagen die ungeschälten Partien repräsentiert. Ich kann euch versichern: Beides ist gleich unerfreulich.
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