Aurel lächelte ihm zu. In den Händen trug sie ein Tablett, auf dem ein Teller mit dampfenden Eintopf stand. Beim Anblick des Essens fing Darecs Magen an zu knurren.
„Wie geht es dir?", fragte Aurel, während sie das Tablett auf dem kleinen Tisch am Fenster abstellte.
„Nicht mit dem Gefangenen sprechen", ging einer der Wachmänner dazwischen.
„Das ist kein Gefangener, das ist Darec, der Hüter von Dyna Nadira", sagte Aurel in einem belehrenden Ton, der so gar nicht zu ihr passen wollte.
Darec stand auf und setzte sich an den Tisch. Er schaufelte den Eintopf regelrecht in sich hinein. Er erkannte zwar, dass nicht Aurel ihn gekocht hatte, aber er hatte Hunger. Großen Hunger.
„Brancus ist außer sich vor Wut", sagte Aurel mit einem Schmunzeln. „Nadira ist entkommen."
Darec hielt mitten in der Bewegung inne. Der volle Löffel schwebte einige Zentimeter vor seinem Mund und er starrte Aurel darüber ungläubig an. Auf ihrem Gesicht lag ein zufriedenes Grinsen, aber nur bis sie einige Sekunden später von den Wachen gepackt und weggezogen wurde.
„Ich sagte: Nicht mit dem Gefangen sprechen", sagte er und stieß Aurel aus dem Raum. Aber Aurel hatte die wichtige Nachricht schon überbracht: Nadira war entkommen. Keiner von beiden wusste von dem Problem, dem Nadira gegenüberstand, und keiner in der Stadt wusste von dem Chaos, das noch vor Tagesfrist über Giagan hereinbrechen würde.
***
Callanor und Tinju suchten in den Fässern und Kisten, die im Keller herumstanden, nach etwas Essbaren. Finden taten sie jedoch nichts. Sie konnten aber sowieso nicht bis in alle Ewigkeiten hier unten bleiben. Irgendwann würden die Hausbewohner in den Keller gehen und sie entdecken. Im Moment war es besser, nicht entdeckt zu werden.
Nadira versuchte ihren Geist zu beruhigen. Sie nutzte dazu eine der Grundtechniken, die die Dynari in der Ausbildung aller Ashari und Dynari verwendeten. In dieser Übung setzte man sich gemütlich hin und versuchte seinen Geist auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Das war überraschend schwierig, wenn man nicht darin geübt war. Aber mit genügend Übung schaffte man es fast automatisch.
Ohne diese Kontrolle über die eigenen Gedanken und Gefühle war es sehr schwierig das Ashara zu kontrollieren. Deshalb war diese Fähigkeit eine der ersten, die junge Ashari und Dynari in Alluria erlernten.
Durch den Halsring war Nadiras Geist in Aufruhr. Mit dieser Übung schaffte sie es, zumindest ein wenig Ruhe zu schaffen. Sie schaffte es, einen Platz in ihrem Geist zu schaffen, in dem ihre Gedanken nicht von dem Sog in ein unkontrolliertes Chaos verwandelt wurden.
„Was machen wir jetzt?", fragte Nadira. Obwohl sie eigentlich die Anführerin der Gruppe war, befanden sie sich in einer Situation, die ihr komplett fremd war. Sie hoffte das Callanor oder Tinju mehr Erfahrungen mit Situationen wie dieser hatten. Oder dass sie zumindest eine Idee hatten, was sie tun konnten. Aber die beiden sahen erst Nadira ratlos an, dann einander.
„Wir wollten Euch erst mal da runterholten", sagte Tinju.
„Das habt ihr auch geschafft, und ich bin euch wirklich dankbar dafür", sagte Nadira. „Aber wir können hier nicht bleiben."
„Der Schlaf scheint Euch gut getan zu haben", stelle Callanor fest. „Ihr wirkt nicht mehr so verwirrt wie gestern."
Nadira nickte. „Es hat geholfen. Aber das Ding entzieht mir immer noch mein Ashara und es fällt mir schwer mich zu konzentrieren."
„Wir müssen herausfinden, wie wir das Ding abbekommen", sagte Tinju.
„Nur wie?", fragte Callanor. „Die Einzigen, die etwas darüber wissen könnten, sind die Dynari. Und wir wissen nicht, ob sie uns nicht sofort in den Kerker stecken würden."
Mit Sicherheit wissen taten es nur die Keshani. Die würden Nadira aber sicher nicht den Gefallen tun und ihr das Ding abnehmen. Die Einzigen hier in der Stadt, an die sie sich wenden konnten, waren die Dynari. Aber vermutlich wussten die auch nicht mehr als Nadira, denn vor ihrer Reise hatte sie noch nie von diesen Halsringen gehört.
„Wir sollten hier verschwinden", sagte Nadira. „Vielleicht hören sie uns zu, wenn sie erfahren, in welcher Gefahr Alluria schwebt."
„Das müssten sie inzwischen wissen", sagte Callanor. „Und sie werden wahrscheinlich jede Hilfe brauchen, die sie bekommen können."
Nadira war sich nicht sicher, ob sie als Hilfe angesehen wurde. Wenn Brancus die örtlichen Dynari davon überzeugt hatte, dass Nadira eine Verräterin war, dann würde man sie eher als Gefahr einschätzen. Aber hier im Keller zu warten, bis die Guul kamen um sie zu fressen, war auch keine Alternative.
Sie zogen Umhänge mit Kapuzen an, in der Hoffnung, dass man sie nicht sofort erkennen würde und so schlichen sie aus dem Keller heraus. Der Zugang des Kellers befand sich außerhalb des Hauses. Diese Methode war eigentlich ziemlich unpraktisch, weil man das Haus verlassen musste. Außerdem war es leichter für Einbrecher in den Keller zu kommen, wie Callanor und Tinju bewiesen hatten. Genutzt wurde diese Methode dann, wenn im Haus kein Platz für einen Zugang war. Möglicherweise auch, wenn der Keller erst nach dem Haus gebaut wurde. Allerdings führte das nicht selten zum Einsturz des Hauses. Nadira wusste das, weil dann die Dynari geholt wurden, um die Opfer zu bergen.
In der Stadt war alles friedlich. Die Menschen schienen unbesorgt ihrem Alltag nachzugehen. Es sah nicht so aus, als befände sich die Stadt in Vorbereitungen für einen Krieg.
Offenbar waren die Wölfe wieder abgezogen, denn das Tor stand wieder weit offen. Selbst auf große Entfernung - sie wagten es nicht näher heranzugehen, aus Angst erkannt zu werden - war das zu erkennen.
„Es sieht nicht aus, als bereite sich die Stadt auf einen Angriff vor", sagte Tinju.
„Nein. Tut es nicht", bestätigte Nadira.
„Was geht hier vor?", fragte Tinju.
Es gab nicht viele Möglichkeiten, was der Grund dafür sein könnte. Entweder hatte Brancus die Dynari noch nicht gewarnt oder die Dynari glaubten ihm nicht.
„Denkt Ihr, Brancus würde die Stadt gefährden, um seinen Arsch zu retten?", fragte Callanor.
„Ich weiß es nicht", sagte Nadira. „Bis gestern hätte ich es nicht einmal ihm zugetraut so etwas zu tun."
***
Gegen Mittag war Darecs Geduld endgültig erschöpft. Er hämmerte unablässig gegen die Türe. Zu Anfang wurde er ignoriert. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass er dem schnell überdrüssig werden würde, aber diesen Gefallen tat er ihnen nicht.
Sie ließen sich fast eine halbe Stunde Zeit. Eine halbe Stunde gegen eine Türe hämmern war anstrengend, und Darec war schon kurz davor aufzugeben. Aber schließlich flog die Türe plötzlich auf. Darec musste sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen, um nicht von der Türe getroffen zu werden.
„Es reicht", schrie ein Wächter ihn an. „Hör sofort auf dem Lärm."
„Beantworte mir nur eine Frage", sagte Darec.
Der Wächter zögerte kurz. „Was willst du wissen?"
„Hat Dyna Sirdyna die anderen Städte schon informiert?"
Der Wächter sah Darec an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Worüber sollte sie die anderen Städte informieren?"
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