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Die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt. Nadira stand noch immer im Pranger und versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten. Wenn ihre Beine die Kraft verließ, würde sie sich selbst strangulieren.
Die beiden Wachen standen links und rechts von ihr, jeweils einige Meter von ihr entfernt. Die Menge, die Nadira beschimpft und mit fauligem Obst beworfen hatte, hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Frau im Pranger war offensichtlich weniger interessant als ein gemütlicher Abend Zuhause am warmen Kamin.
Mit dem Abend war es auch deutlich kühler geworden. Da Nadira sich kaum bewegen konnte, traf die Kälte sie um so stärker. Sie fühlte, wie ihre Muskeln immer steifer wurden und so nur noch mehr Wärme und Kraft verloren. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Nacht überstehen würde.
Eine Bewegung auf dem Platz vor ihr lenkte Nadiras Aufmerksamkeit von ihren Schmerzen ab. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass sie nicht erkennen konnte, wer dort stand.
„Darf ich zur Gefangenen?", fragte eine männliche Stimme.
„Nein", rief eine der Wachen. „Verschwinde."
„Sie braucht etwas zu trinken", sagte der Mann und hielt etwas hoch.
„Na gut", sagte schließlich eine der Wachen. Nadira hörte Schritte, die die paar Stufen des Podestes hinaufstiegen und sich ihr dann auf dem Holzboden näherten. Eine Hand griff nach ihrer Hand und Nadira hob kraftlos den Kopf.
„Ich bringe dir etwas zu trinken", sagte ein Mann und ging vor Nadira in die Hocke. Sie konnte ihn nicht erkennen, da er eine Kapuze trug, die sein Gesicht verdeckte. Erst als der Mann den Kopf hob, erkannte Nadira ihn. Es war Tinju.
„Trink", sagte er und hielt Nadira einen Wasserschlauch an den Mund. Gierig trank Nadira das schale Wasser. Sie hatten ihr den ganzen Tag über nichts zu trinken gegeben.
„Das ist genug", rief eine der Wachen.
„Ist ja gut", sagte Tinju und zog den Trinkschlauch weg. Ehe er aufstand, flüsterte er Nadira noch zu: „Es wird alles gut."
Er ergriff noch einmal Nadiras Hand, doch diesmal war seine Hand nicht leer. Er legte ihr etwas hartes, glattes in die Hand, Nadira schloss ihre Hand darum, um es zu verbergen. Tinju drehte sich um und ging weg. „Ihr solltet eure Gefangenen besser behandeln", sagte er im Vorbeigehen.
„Kümmere dich um deine eigenen Probleme", sagte eine der Wachen. Tinjus Schritte entfernten sich.
Nadiras hatte noch immer massive Probleme sich zu konzentrieren. Die Energie, die ihr laufend entzogen wurde, schien auch ihre Gedanken aufzusaugen und ihr Kopf fühlte sich die meiste Zeit leer an.
Aber irgend etwas war anders. Da war ein kleiner Ort am Rande ihres Bewusstseins. Ein Ort, der dem Sog des Halsrings widerstand. Neugierig und mit unendlich großer Mühe, wandte Nadira sich diesem Punkt zu. Er war rund, er war voller Ashara. Nadira konnte das Strahlen der Kraft sehen, die von diesem Punkt ausging. Der Sog schien das Ashara in diesem Punkt kaum zu beeinflussen. Was war das?
Dann plötzlich verstand sie. Das harte, runde etwas, das Tinju ihr in die Hand gegeben hatte. Vor Schreck über die Erkenntnis ließ sie den Fokusstein fast fallen. Aber nur fast, stattdessen griff sie fester zu.
Die Wachen schienen bemerkt zu haben. „Was ist das?", sagte einer von ihnen.
„Was ist was?", fragte der andere.
„Sie hat etwas in der Hand."
Bloß keine Zeit verlieren. Wenn sie ihr den Fokusstein wegnahmen, war alles vergebens. Nadira griff nach dem Ashara im Fokusstein, aber es funktionierte nicht. In dem Moment, in dem sie das Ashara zu sich heranzog, wurde es vom Sog erfasst und verschwand.
„Was ist das?", sagte die Wache. Schritte näherten sich ihr. Nadira lief die Zeit davon. Sie musste das Ashara nicht zu sich ziehen, sie konnte es auch direkt aussenden. Zwar konnte sie es dann nicht so gut kontrollieren, aber es müsste ausreichen. Nadira versuchte es, sie griff nach dem Ashara und sandte es von sich weg. Es klappte.
Jemand berührte ihre Hand, versuchte ihre Finger aufzubiegen. Nadira griff nach dem Ashara und schickte es gegen die Wache. Ein Schrei zeigte ihr, dass sie getroffen hatte, die Hand verschwand. Schritte eilten auf sie zu. Sie sah die zweite Wache vor sich. Ehe der Mann etwas unternehmen konnte, fegte sie ihm mit dem Ashara aus ihrem Fokusstein von den Beinen.
Als Nächstes sprengte sie den Pranger. Nur durch Glück verletzte sich dabei nicht selbst. Während Nadira vom Pranger weg stolperte, versuchte sie sich mit dem Ashara zu heilen, aber es klappte nicht. Die Energie wurde weggezogen, ehe sie ihr helfen konnte. Halb blind in der Dunkelheit, verwirrt vom Verlust all ihrer Kraft und mit schmerzenden Muskeln, stolperte Nadira davon. Plötzlich war kein Boden mehr da und sie stürzte. Hart schlug sie auf dem steinernen Boden des Platzes auf. Der Fokusstein fiel ihr aus der Hand, prallte mit einem singenden Laut auf den Boden und rollte weg. Von einem Augenblick auf den anderen war auch dieser winzige Punkt Stabilität im Sog des Halsrings verschwunden. Das Chaos stürzte über Nadiras Geist herein und für einige Augenblicke wusste sie nicht, wo sie war, nicht einmal wer sie war.
Hatte sie die Wachen ausgeschaltet, oder nur kurzzeitig aus dem Weg geschafft? Nadira stemmte sich auf alle Viere und suchte nach dem Stein. Er war nicht da. Schritte näherten sich. Panik stieg in Nadira auf, wo war dieser verdammte Stein?
Ein Schrei erklang und ein dumpfer Stoß. Schritte in ihrer unmittelbaren Nähe. Hände packten sie an den Hüften, zogen sie nach oben. Nadira schrie und versuchte sich zu wehren.
„Ich bin es, Callanor", rief eine Stimme. Nadira hörte die Worte aber verstand sie nicht. Eine Hand schlug ihr auf die Wange. Nadira hob den Blick und sah ein vertrautes Gesicht vor sich.
„Callanor", hauchte sie.
„Ja. Ich bin es. Und wir müssen weg hier."
„Der Fokusstein", keuchte Nadira.
„Ich hab ihn", rief jemand.
„Tinju hat ihn. Schnell jetzt." Callanor trug Nadira mehr, als dass sie selbst ging. Sie konnte immer noch kaum einen klaren Gedanken fassen, aber immerhin wusste sie eines: Sie war frei.
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Nadira wusste nicht, wohin sie sie gebracht hatten. Aber sie wusste, dass der Weg ziemlich weit gewesen war. Wahrscheinlich wollten sie sie so weit wie möglich von dem Pranger wegbringen. Allerdings durften sie nicht riskieren die Stadt zu verlassen. Draußen lauerten wahrscheinlich noch immer die Wölfe.
Sie befand sich in einem kleinen Raum, der sich unter der Erde zu befinden schien. An den Wänden schien immer wieder die blanke Erde durch. Zwar waren Wände und Boden mit Steinen verstärkt, aber die Erbauer schienen keine talentierten Handwerker gewesen zu sein. Da sie unter der Erde waren, vermutete Nadira, dass sie sich in irgendeinem Keller befanden.
Nadira setzte sich auf. Sie hatte sich viel zu abrupt bewegt und die ganze Welt drehte sich plötzlich um sie. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, wieder umzufallen. Sie krallte sich an irgendein Ding aus Holz, das ganz in ihrer Nähe stand.
„Geht es wieder?"
Nadira öffnete die Augen aber schloss sie sofort wieder, da die Welt sich immer noch drehte. Nach einer Weile versuchte sie es noch einmal. Jetzt war es etwas besser, die Welt hatte gebremst. Vor sich erkannte sie ein verschwommenes Gesicht, in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Aber trotzdem schaffte sie es. Es war Tinju.
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