An einem großen Platz hielten sie an. Brancus unterhielt sich mit der Wache, doch Nadira konnte nicht verstehen, was sie sagten. Darec und Aurel konnten es offensichtlich, denn es machte sie wütend und ein Streit brach aus. Darec wurde von zwei Männern weggezerrt.
Schließlich führten die beiden Wachen, die Nadira eigentlich eher trugen als führten, sie nach vorne. Jetzt erkannte auch sie, was Darec und Aurel so wütend gemacht hatte. Mitten auf dem Platz stand ein hölzernes Podest und auf dem Podest ein Pranger. Brancus würde doch nicht … aber die Wachen schleppten sie genau dorthin.
„Der Pranger ist eine Strafe", protestierte die Wache. „Ich kann nicht einfach jemand ohne Urteil in den Pranger stecken."
„Wollt Ihr Euch meinen Befehlen widersetzen?", schrie Brancus die Wache an.
„Ich will Euch nur auf das Gesetz hinweisen."
„Ich kenne die Gesetze. Diese Frau ist schuld an einem Krieg, der gerade ausbricht. Sie hat es verdient."
„Ein Krieg?" Die Wache sah zu Nadira. Jede Spur von Widerstand gegen Brancus Befehle war aus seinem Gesicht gewichen. „Packt sie in den Pranger."
Nadira konnte nicht glauben, was sie da hörte. Aus den Augenwinkeln sah sie Brancus, der mit einem gehässigen Lächeln zusah, wie sie auf den Pranger zu geführt wurde.
Die Wachen klappten den oberen Teil auf und legten Nadiras Arme und ihren Kopf in dafür vorgesehenen Löcher, dann klappten sie den oberen Teil wieder herunter und setzten sie so fest. Die Höhe des Prangers war so gewähnt, dass Nadira sich nach vorne beugen musste. Eine extrem unbequeme Position.
„Lasst zwei Wachen hier, damit ihr niemand etwas antut", sagte Brancus. Wenigsten soviel Anstand besaß er noch. Wie befohlen blieben zwei Wachen bei Nadira zurück, die anderen zerrten Darec und Aurel fort.
Um das Podest herum versammelte sich langsam eine Menschenmenge. Nadira hatte keine Illusion, dass die beiden Wachen die Menschen davon abhalten könnten, sie zu lynchen, wenn die Menge das versuchte. Aber zumindest jetzt war es noch nicht soweit.
Die Menschen bildeten ein Kreis um das Podest und immer wieder erklangen Rufe wie, „Hängt sie", „Bringt das Miststück um" und ähnliche Nettigkeiten.
Wie schon in Miragar verlor Nadira bald das Zeitgefühl. Der ständige Entzug von Ashara schwächte sie so sehr, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie fühlte sich benommen und konnte sich nur mit viel Mühe konzentrieren. In dieser Situation war sie darüber aber nicht unglücklich, so wurden ihr die Schmerzen durch die unbequeme Position im Pranger erspart.
Irgendwann traf sie etwas am Kopf. Es tat weh und traf sie nur wenige Zentimeter neben ihrem Auge. Ein Stückchen weiter links, und sie hätte vielleicht ihr Auge verloren. Weitere Geschosse schlugen neben ihrem Kopf ein. Ein paar Mal wurde sie auch getroffen, aber diese Treffer waren weniger hart. Es dauerte eine Weile, bis Nadira realisierte, was sie da traf: fauliges Obst. Die Leute bewarfen sie mit fauligem Obst! Die beiden Wachen, die auf sie aufpassen sollten, machte keinerlei Anstalten, die Menschen davon abzuhalten.
Als es dunkel wurde lichtete sich die Menge langsam. Nadira konnte ihren Körper kaum noch fühlen. Sie hatte keine Kraft um sich zu heilen, die Haltung verkrampfte ihre Muskeln, dazu kamen noch die Prellungen von dem Sturz. Wie lange würde sie noch hier stehen müssen?
In der Menge entdeckte Nadira ein vertrautes Gesicht: Tinju. Würde er sie herausholen? Nein. Er ging. Er konnte sie doch nicht hier zurücklassen. Nadira wollte nach ihm rufen, aber ihr fehlte die Kraft dazu. Jemand musste ihr helfen. Brancus hatte sie verraten. Obwohl er schon immer ihr Feind gewesen war, hätte Nadira niemals erwartet, dass er zu solch einen Verrat fähig war. Irgendjemand musste ihn aufhalten. Er brachte nicht nur Nadira in Gefahr, sondern ganz Alluria, vielleicht sogar ganz Soria.
***
Darec konnte nicht glauben, was hier passierte. Zuerst beschuldigten die Bürger Nadira, schuld an den Angriff der Wölfe zu sein, dann bezeichnete Brancus Nadira als Verräterin und die Wachen glaubten ihm auch noch.
Immerhin war auch Brancus Ziel das Haus der Dynari. Dort würde sich die Sache aufklären. Dyna Sirdyna, das Oberhaupt der Dynari in Giagan kannte Nadira und würde Brancus sicher nicht so einfach glauben. Außerdem wusste sie, dass Nadira eine Dynari war und keine Betrügerin.
Aber Brancus lies die Sache nicht auf sich beruhen. Als sie auf einem großen Platz kamen, ließ er Nadira in einen Pranger stecken, wie eine billige Hure. Darec schwor sich, dass Brancus für das hier bezahlen würde.
Er versuchte sich loszureißen, um Nadira zu helfen, aber die beiden Wachen, die ihn festhielten, waren so gut ausgebildet wie er selbst und er hatte keine Chance zu entkommen. Immer wieder rief er den Wachen zu, dass sie einen schlimmen Fehler machten, aber sie hörten nicht auf ihn. Sie glaubten, Nadira hätte ihn und Aurel irgendwie beeinflusst.
Eigentlich sollten sie es besser wissen. Die Wachen lernten, dass Ashara den Geist von Menschen nicht dauerhaft beeinflussen konnte. Zwar waren manche Ashari in der Lage, die Sinne zu verwirren, aber keiner von ihnen konnte die Gedanken anderer Menschen kontrollieren. Wieso verhielten sie sich so, obwohl sie wissen mussten, dass sie falsch handelten?
Darec konnte es sich nur so erklären, dass sie durch das schreckliche Halsband, das Ashari ihre Kraft nahm, verunsichert waren. In Alluria hatte man von diesem Ding noch nie gehört. Wahrscheinlich wollten sie die Entscheidung den Dynari überlassen.
Sie ließen Nadira auf dem Platz zurück. Wie einen Verbrecher hatte man sie an den Pranger gestellt. Sie, die ihr Leben riskierte hatte, um anderen zu helfen, die jetzt ihr Leben riskierte, um Alluria vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen. Es war ein Hohn, ein schrecklicher Hohn. Wenn das Ganze in einer Geschichte passiert wäre, hätte er darüber gelacht.
Darec erkannte, dass es keinen Sinn mehr machte, sich gegen die Wachen zu wehren. Er würde nicht entkommen. Und selbst wenn er die beiden überwinden konnte, wäre er nicht frei. Die kleine Gruppe wurde noch von sieben weiteren Wachen begleitet. Er konnte nicht entkommen, also wechselte er seine Taktik.
„Wie könnt ihr das zulassen?", fragte er die Wachen, die ihn festhielten.
„Wir befolgen nur Befehle", sagte einer der beiden.
„Ihr müsst doch wissen, dass Brancus euch Unsinn erzählt hat."
„Das ist Sache der Dynari. Wir bringen euch zu ihnen."
Es war ihnen offensichtlich egal, was sie taten. „Ihr habt eine Dynari an den Pranger gefesselt", rief Darec.
„Sei still", fauchte Brancus ihn an. „Wir werden das, was sie getan hat, rückgängig machen. Dann wirst du wieder wissen, wer du bist: mein Hüter."
„Ich bin Nadiras Hüter. Und du bist verrückt geworden", schrie Darec Brancus an.
Eine der Wache schlug Darec mit der Faust in den Bauch. Der Schlag war nicht einmal besonders fest gewesen, es war nur eine Warnung. „Sprich nicht so mit dem Dynari."
„Er ist verrückt geworden", rief Darec, der die Warnung ignorierte.
„Könnt ihr ihn bitte ausschalten?", sagte Brancus mit genervter Stimme. Darec hatte keine Chance zu reagieren, ehe er den Knauf eines Schwertes auf seinen Kopf zurasen sah. Der Treffer warf seinen Kopf in den Nacken und blies sein Bewusstsein aus.
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