Mit großen Augen schaute sich Chloé um. Was ging hier vor? War der Strom ausgefallen? Verzweifelt wartete sie darauf, dass die Fahrt weiterging, aber nichts rührte sich. Chloé schaute nach vorn.
Die Gestalt in der weißen Robe drehte sich zu ihr um! Sie wollte schreien, brachte keinen Ton hervor und krallte sich in der Hand von Henri fest. Warum sagte ihr Freund nichts! Er saß völlig still und gleichgültig neben ihr. War mit ihm etwas geschehen? Warum bemerkte er ihre furchtbare Angst denn nicht?
Das Gesicht der Gestalt lag noch im Dunkeln. Trotzdem erkannte sie das höhnische Grinsen auf den halb verborgenen Zügen.
Nein, dachte sie, er sieht aus, als wäre er lebendig! Im düsteren roten Dämmerlicht kam die Gestalt auf Chloé zu. Sie krallte sich noch fester an Henri fest, wollte etwas zu ihm sagen, ihn anschreien, aber sie brachte keinen Ton hervor.
Chloé konnte sich vor Angst nicht rühren. Sie war wie gelähmt und brachte keinen klaren Gedanken zustande. Ihr Verstand war benebelt, ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Jetzt sah sie, dass das lange Messer in der Hand des Mannes von Blut troff. Sie drehte sich hastig nach dem Mädchen um. Von einer Schnittwunde am Oberkörper floss Blut auf den Tisch. Als Chloé genauer hinsah, erkannte sie, dass der Brustkorb des Mädchens geöffnet war und ihr zuckendes Herz hervorblickte. Die Augen der Gefesselten waren jetzt starr und leblos.
Chloé wimmerte leise, als die Figur in der weißen Robe näher kam. Der Teil von ihr, der noch vernünftig denken konnte, fragte sich, wie es möglich war, dass die Figur sich so lebensecht bewegen und sogar ihren Platz verlassen konnte.
Warum sagte Henri kein Wort? Er saß völlig still neben ihr und reagierte auf keinen Druck ihrer Hand.
Mit erhobenem Messer näherte sich der Mann der Bahn. Er öffnete den Mund und sprach mit einer seltsam klingenden Stimme: „Du bist meine Nummer fünf!“
Und als er das sagte, sah sie sein Gesicht.
Chloé glaubte fast den Verstand zu verlieren. Sie reagierte wie ein panisches Tier und hörte ein dumpfes Stöhnen, das aus ihrer eigenen Kehle kam. Die Figur war jetzt ganz nahe, eine neuerliche Woge der Angst überrollte sie, als das Licht auf das Gesicht des Mannes fiel.
Es war der unheimliche Fremde aus ihrem Alptraum!
„Du bist meine Nummer Fünf“, erklang seine bösartige Stimme.
Vor Entsetzen über das Schauspiel vor ihren Augen war Chloé wie gelähmt. Sie begriff nicht, wie es möglich war, dass ihr so etwas widerfuhr. War dieser Mann wirklich nur eine mechanisch betriebene Figur, oder war er ein Schauspieler?
Die Szene erinnerte sie an ihren Alptraum. Der gleiche Mann, der versucht hatte, sie in der Aussegnungshalle zu töten. Warum wollte er das tun?
Zum Überlegen blieb ihr allerdings wenig Zeit, denn die Gestalt in der weißen Robe hatte die Bahn nun fast erreicht. Chloé stöhnte unwillkürlich auf, als der Mann nach ihr griff.
Warum schritt Henri nicht ein? War er betäubt oder bewusstlos? Er saß völlig still neben ihr, rührte keinen Muskel.
Als die fremde Gestalt ihr langes Haar berührte, setzte sich die Bahn plötzlich mit einem Ruck wieder in Bewegung. Mit einem wütenden Fauchen ließ die Gestalt ihr Haar los.
Chloé wünschte sich nichts sehnlicher, als dass diese schreckliche Fahrt bald vorüber wäre. Wenn er sie nun verfolgte?
Sie zwang sich, einen Blick zurückzuwerfen. Die Gestalt stand noch immer auf den Schienen der Geisterbahn, machte jedoch keine Anstalten, ihr zu folgen. Der Mann stand nur da und sah ihr mit offener Enttäuschung in seinem fürchterlichen Gesicht nach. Er hielt seine Hand erhoben und deutete mit den Fingern die Zahl Fünf an.
Während die Bahn ihren Weg fortsetzte, richtete sich Chloé zitternd ein wenig auf und sah zu Henri.
„Bitte, bring mich hier heraus“, flüsterte sie in der Hoffnung, er möge nun endlich reagieren.
„Wir fahren doch schon durch den Ausgang“, antwortete er grinsend. „Hat dir die Fahrt nicht gefallen?“
Während seiner Worte fuhr die Bahn durch einen schwarzen Vorhang und rollte auf die Ausstiegsstelle zu. Dann stoppte der Wagen abrupt und der Sicherheitsbügel öffnete sich.
„Ach, Henri, es war so schrecklich“, sprach sie mit zittriger Stimme und warf sich in seine Arme.
„Hey, was ist los?“, fragte Henri, und hob ihr Kinn mit seinen Fingern an.
„Hast du denn nicht die grässlichen Szenen gesehen. Es war alles real und echt!“
„Ach, Liebes, ich weiß nicht, was du da drinnen gesehen hast, aber was immer es war, es kann nur eine Halluzination gewesen sein. Es war doch nur eine harmlose Karussellfahrt. Die Pappfiguren waren eher peinlich als gruselig. Ich habe auch nichts anderes bei dieser Geisterbahn erwartet. Es kommt doch kein großer Fahrbetrieb nach Germering. Die richtigen Schausteller sind auf dem Oktoberfest und nicht hier.“
„Und die Szene mit der Eisernen Jungfrau?“
„Die sahen richtig echt aus, die Pappfiguren.“
„Hast du das Blut nicht gesehen?“, fragte Chloé schockiert.
„Ähh ... nein.“
„Aber den unheimlichen Mann in der weißen Robe hast du doch gesehen. Er hat das dunkelhaarige Mädchen auf dem Tisch in der Grabkammer getötet!“
„Ich bin mir nicht sicher, was du gesehen hast. In der Gruft stand ein Mann in schwarzer Robe, der eine blonde Frau mumifiziert hat.“
„Sie hatte lange schwarze Haare!“
„Eigentlich waren sie eher kurz und blond.“
Chloé schüttelte bockig den Kopf. „Ich ... ich weiß genau, was ich gesehen habe! Du hältst mich jetzt bestimmt für hysterisch.“
Statt einer Antwort nahm Henri ihre Hände und zog sie sanft an sich.
„Nein, ich halte dich nur für ausgesprochen feinfühlig, aber das finde ich wundervoll.“
Und dann küsste er sie zärtlich. Mit rasendem Puls erwiderte Chloé den Kuss. Eine wohlige Wärme hüllte ihren ganzen Körper ein. Es machte sie ein wenig verlegen, so öffentlich auf dem Volksfest zu knutschen. Aber unbewusst drängte sie sich noch enger an Henri, sodass sie seinen schlanken, muskulösen Körper an ihrem spürte. Eine machtvolle Erregung erfasste sie. Am liebsten hätte sie ihm hier und jetzt die Kleidung von seinem Körper gerissen.
„Wir sollten öfter Geisterbahn fahren, wenn das solche Reaktionen bei dir hervorruft“, flüsterte Henri und knabberte zärtlich an ihrem Ohrläppchen.
Zu ihrer eigenen Verwunderung antworte sie frech: „Das liegt an deiner Nähe, nicht an dem Fahrgeschäft.“
Er küsste sie sanft auf ihren Mund. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, ergriff er ihre Hand und schlenderte mit ihr über den Festplatz. Chloé versuchte, die Erinnerung an die Geisterbahn aus ihrem Kopf zu verdrängen. Die laute Musik am Autoscooter, die duftenden Mandeln und die lachenden Gesichter der Menschen auf dem Volksfest halfen ihr dabei.
„Der Stand ist aber neu“, meinte Henri und deutete auf ein kleines Zelt, das am äußersten Rand, direkt zwischen der Losbude und dem Bierzelt stand.
„Das habe ich auch noch nie gesehen“, stimmte Chloé ihm kopfnickend zu.
„Scheint eine Wahrsagerin zu sein.“
Mittlerweile hatten sie das kleine Zelt erreicht. Die Außenfläche war mit merkwürdigen Zeichen bemalt. Man konnte Sterne, die Sonne und den Mond erkennen, aber auch altägyptische Hieroglyphen waren abgebildet.
„Möchtest du dir aus der Hand lesen lassen?“, fragte Henri grinsend.
„An so etwas glaube ich nicht, dazu bin ich Realist genug. Ist doch nur alles Humbug und Gaunerei“, antwortete Chloé und wollte sich bereits abwenden. Das Bierzelt mit der Blasmusik und einer Radlermaß zog sie mehr an.
Plötzlich wurde die Zeltwand ein Stück zurückgeschoben und eine alte Frau mit langen grauen Haaren und hellen, blauen Augen blickte heraus. Aus dem Zelt drang ein intensives Licht. Die Frau beugte sich vor und deutete direkt auf Chloé. Ihr Blick schien Löcher in ihren Schädel zu bohren.
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