Chloé versteifte sich, blieb auf der gleichen Stelle stehen. Ihre Muskeln schienen nicht mehr zu gehorchen. Sie versank in den Augen der alten Frau.
„Du bist das jüngste Kind in einer Familie von zwei Kindern. Alles Mädchen“, krächzte die Frau, die wohl die Wahrsagerin sein musste. „Du hast kürzlich einen schrecklichen Verlust erlitten, auch eine Frau, die dir sehr nahestand. Deine Großmutter! Dann hast du einen seltsamen Mann in deinen Träumen gesehen, der dich verfolgt, dem du in letzter Zeit begegnet bist!“
Chloé zuckte schockiert. Ihr Gesicht war zuerst krebsrot geworden und dann schneeweiß. Sie konnte ihren Blick nicht von der Wahrsagerin abwenden, in ihren Augen bildeten sich Tränen. Henri legte einen Arm um ihre bebende Schulter und flüsterte etwas, das Chloé nicht verstehen konnte.
Der emotionale Sturm ging so schnell vorüber, wie er ausgebrochen war. Chloé ergriff ein Taschentuch und wischte sich die Tränen ab.
„Komm herein, Kind. Ich habe dir Wichtiges zu sagen!“, erklärte die Wahrsagerin, nahm die Hand von Chloé und zog sie hinter sich in das kleine Zelt. Henri folgte notgedrungen, obwohl er sich dabei nicht wohlfühlte.
In der Mitte des kleinen Raumes stand ein runder Tisch, der mit altertümlichen Schnitzereien verziert war. Auf einem halbhohen Schrank standen rote Kerzen, die ein flackerndes Licht abgaben. Außerdem roch der Raum nach dem typischen Duft von Räucherstäbchen. Um den Tisch standen nur drei Stühle. Als hätte sie uns erwartet, überlegte Henri.
Die Wahrsagerin drückte Chloé auf einen der Stühle, die es wie unter Hypnose mit sich geschehen ließ. Henri machte sich Sorgen, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand.
Die alte Frau stand neben Chloé und schloss ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ein besorgter Blick darin zu erkennen. Sie berührte mit ihrem Zeigefinger Chloés Stirn und strich sanft auf und wieder ab.
„Du hast die Gabe. Du bist auserwählt. Die seherische Kraft ist in dir, aber sie ruht noch. Du bist dir ihrer noch nicht einmal bewusst, aber sie ist da, in deinem Innern, und sie ist sehr, sehr mächtig. Meditiere, und sie wird sich entwickeln. Du wirst sie entdecken, so wie du lernen wirst, sie zu benutzen!“
Ganz plötzlich zuckte die Hellseherin zurück und riss ihre Hand weg, als hätte sie sich die Finger an einem rotglühenden Eisen verbrannt. Sie schnappte röchelnd nach Luft und stolperte fast auf den freien Stuhl.
„Du schwebst in Gefahr, schönes Mädchen. Aber ich kann dir helfen. Soll ich in einer Séance für dich nachfragen, wer dich bedroht?“
Chloé schloss ihre Augen und holte tief Luft, während sie ein ängstliches Zittern tief in ihrer Brust spürte. Sie dachte an den unheimlichen Mann in der weißen Robe, der ihr im Traum und heute in der Geisterbahn begegnet war.
„Ja! Bitte, helfen Sie mir!“, erklärte Chloé beschwörend. Henri zitterte nervös und bekam ein ganz schlechtes Gefühl. Die ganze Situation gefiel ihm nicht. Es erinnerte ihn an frühere Erlebnisse. Vor drei Jahren hatte er zwei Séancen im Haus seiner Großmutter erlebt. Danach wurde sein Bruder Cedric ein völlig anderer Mensch, er hatte sich verändert, ohne jemals den Grund hierfür zu sagen. Aber Henri spürte, dass damals etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Er wollte keine Hilfe von einer Hellseherin!
„Chloé, nein! Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei“, flüsterte er drängend.
„Bitte, Henri! Es ist wichtig für mich. Lass mich nicht allein“, antwortete sie mit einer flehenden Stimme.
„Aber ...“
Weiter kam er nicht mehr. Er wollte etwas erwidern, Chloé umstimmen, sie aus diesem Zelt fortzerren, aber die Wahrsagerin hob ihren rechten Arm. Es wurde still im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören.
„Conjurationes adversus principem tenebrarum“, sprach die alte Frau mit einer magischen, rauen Stimme.
Henri spürte nach diesen Worten, wie die Kraft seinen Körper verließ. Er konnte seinen Mund nicht mehr öffnen, es war für ihn unmöglich, auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen. Eine merkwürdige Lähmung ergriff ihn.
„Nimm seine rechte Hand“, befahl die Wahrsagerin Chloé, die unverzüglich dieser Aufforderung nachkam und Henris Hand ergriff.
Die alte Frau ging zu dem seitlich stehenden Schrank, öffnete eine Tür, holte eine weiße Kerze hervor, die mit schwarzen Symbolen verziert war. Nachdem sie diese in die Tischmitte gestellt und angezündet hatte, ließ sie sich auf dem letzten freien Stuhl nieder. Sie ergriff links Chloés freie Hand und rechts die von Henri. Der Kreis war geschlossen!
Henri spürte, wie sein Herz raste, sich kalter Schweiß auf der Haut bildete, aber er konnte sich immer noch nicht bewegen. Wie einem inneren Befehl folgend, schlossen beide ihre Augen.
„Du großer, mächtiger Djehuti, ich beschwöre dich an diesem Tag und zu dieser Stunde hier, um dir bestimmte Angelegenheiten aufzutragen. Bevor ich aber damit fortfahren kann, ist es notwendig, dass du dich gut sichtbar vor mir zeigst. Und höre, solltest du unter irgendeinem Bann stehen oder anderswo beschäftigt sein, dich dennoch nichts befähigen wird, der Kraft meiner fürchterlichen Beschwörung zu widerstehen! Ich kommandiere dich, und solltest du meinen Worten nicht gehorchen oder unwillig sein zu kommen, dann verfluche ich dich auf die schrecklichste Art und Weise, indem ich dir deine Macht nehme und dich in einen schauerlichen Ort verbanne!“, sprach die Wahrsagerin, als wäre es ein sakrales Gebet.
Henri musste dem Zwang nachgeben. Er öffnete seine Augen! Die alte Frau vor ihm begann sich zu verändern und ein untrügliches Gefühl der Angst hüllte ihn ein, wie gigantische Glasscherben, die von allen Seiten auf ihn zeigten. Unfähig, seinen Blick vom Gesicht der Wahrsagerin abzuwenden, beobachtete er, wie sich ihre Haut kräuselte und verzog, wie sich ihre Züge verzerrten, dehnten und völlig veränderten. Während er in entsetzter Faszination zuschaute, verwandelte sich das Gesicht der alten Frau in ein heimtückisches, grinsendes, grünes Dämonengesicht. Die Erscheinung streckte eine widerliche Zunge heraus, lang, schwarz und geschuppt wie der Körper einer Schlange, und zwinkerte Henri diabolisch zu.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens fuhr sie fort.
„Deshalb komme sofort und werde sichtbar, oh du mächtiger Djehuti, und erscheine in dem magischen Dreieck außerhalb dieses Kreises.“
Die Temperatur sank schlagartig, verwandelte das Zelt in einen Eiskeller. Voller Panik erkannte Henri, wie sein Atem kleine weiße Wölkchen in der kalten Luft bildete.
Plötzlich brach Chloé in ein hysterisches Gelächter aus. Ihr Kopf wippte nach vorne und wieder zurück. Durch ihren Körper gingen merkwürdige Zuckungen, die kurz darauf dazu führten, dass sie sich versteifte, aufrecht sitzen blieb und keine weitere Bewegung mehr machte. Es schien, als wäre sie beim lebendigen Leib zu einer Eissäule gefroren. Ihre Augen waren unverändert geschlossen.
Genau in diesem Moment spürte Henri, dass eine weitere Person im Zelt anwesend war. Er konnte niemanden sehen, aber seine Instinkte bestätigten es.
Langsam drehte er seinen Kopf, eigentlich wollte er es nicht, aber seine Muskeln wurden wie unter einem unsichtbaren Druck selbstständig bewegt. Neben sich auf dem Boden befand sich eine weiße Masse. Es sah aus wie ein hoher Haufen sich bewegender Bettdecken.
Dann bäumte sich der weiße Berg auf und nahm eine grässliche Gestalt an. Zuerst bildete sich ein scheußlicher grüner Kopf mit spitzen Hörnern. Aus der raubtierartigen Schnauze zuckte eine lange schwarze, schuppige Zunge hervor. Das Wesen stieß einen Laut aus, wie ein Tier in Todesqual. Es hob seine klauenartige Hand, holte aus und schlug nur Millimeter vor dem Gesicht von Henri durch die Luft. Dabei erwischte er Chloé, die getroffen vom Stuhl flog und auf den Boden prallte.
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