Krieger sich rechtzeitig sammeln konnten. Über fünftausend Jahreswenden
hatte Niyashaar diese Aufgabe erfüllt, doch nun war der Zeitpunkt
gekommen, an dem die Anlage endgültig aufgegeben würde.
Niyashaar war ein schlichtes Mauergeviert mit wenigen Gebäuden und
einem einzelnen, alles überragenden Turm. Das einzige Tor, das aus
massigen, durch Metallbänder verstärkten Balken bestand, war nach Westen
gerichtet und lag somit auf der dem Pass von Rushaan abgewandten Seite.
Insgesamt ließ die Anlage die Eleganz der elfischen Baukunst vermissen, aber
sie erfüllte ihren Zweck.
Elgeros und die Hundertschaft der Bogenschützen konnten direkt auf das
Tor sehen, und was sie dort erkannten, gefiel ihnen nicht.
»Das Tor von Niyashaar ist offen«, sagte Neolaras mit einem grimmigen
Unterton in der Stimme.
»Und es ist beschädigt«, ergänzte Elgeros. Der Bogenführer hob einen
Arm und ließ die Kolonne haltmachen. »Schwärmt aus, ihr Elfen des Hauses
Tenadan, und achtet mir auf die Flanken. Etwas ist in Niyashaar geschehen,
und was ich sehe, macht mir Sorgen.«
Beide Flügel des nach innen aufgehenden Tores standen ein Stück weit
offen, der eine etwas weiter als der andere. Das war ungewöhnlich und
deutete darauf hin, dass die Besatzung Niyashaar aufgegeben hatte.
Neolaras schien derselbe Gedanke gekommen zu sein. »Ob sie den Posten
verlassen haben?«
Hinter ihnen schwärmte unterdessen die Hundertschaft in zwei
auseinandergezogenen Linien aus. Die vordere Reihe zog die leicht
gekrümmten Schwerter, die hintere hielt ihre Bogen bereit.
Elgeros schüttelte den Kopf. »Dann wären sie uns begegnet. Außerdem
hätten sie Niyashaar nicht ohne Befehl des Ältesten oder zwingende Not
geräumt. Nein, mein Freund, hier ist etwas geschehen.« Der Bogenführer
strich sich nervös über das Kinn. »Wir sehen es uns gemeinsam an. Deine
Zehn soll uns folgen.«
Neolaras wandte sich kurz um. »Meine Zehn folgt in fünf Schritten
Abstand. Die anderen halten die Stellung.«
Ihre Schritte knirschten auf dem Sand, während sie sich langsam dem
Vorposten näherten. Alle ihre Sinne waren gespannt und auf Anzeichen von
Gefahr gerichtet, aber alles blieb ruhig. Der Schatten des Torbogens fiel über
sie, dann knarrte einer der Torflügel leise, als Neolaras ihn weiter öffnete.
Nun konnten sie auch den Innenhof der Anlage übersehen, bis auf den
Bereich, der von dem massigen Turm verdeckt wurde. Die Gebäude des
Postens zogen sich an den Innenseiten der Mauern entlang: zwei bescheidene
Unterkünfte, das Vorratshaus und ein weiteres, in dem die Speisen zubereitet
wurden und die Männer sich zur Geselligkeit trafen.
»Niemand zu sehen«, brummte Neolaras. Er hielt ebenfalls seinen Bogen
bereit und hatte einen Pfeil aufgelegt. »Auch keine Spur eines Kampfes.«
»Ja, das ist seltsam.« Elgeros war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen,
aber nun krampften sich seine Finger um den Griff seines Schwertes. »Keine
Toten, keine Kadaver von Bestien. Nicht einmal Blut.«
Der Bogenführer hörte die Schritte der zehn Elfen, die zu Neolaras’
Gruppe gehörten, und machte mit der freien Hand ein paar Zeichen in der
lautlosen Fingersprache des elfischen Volkes. Die Krieger schwärmten aus
und sicherten die beiden Führer, die nun auf den Turm zuschritten.
Eine kurze steinerne Treppe führte zu der dortigen Tür, die ebenfalls offen
stand. Sie war aus einer schweren Metallplatte und zeigte die Symbole der
elfischen Häuser. In die Rahmen waren filigrane Muster eingearbeitet und die
Zeichen der Einheiten, die hier gedient hatten. Elgeros’ Schritt stockte auf
halber Höhe der Treppe, und er deutete vor sich. »Dort. Sieh dir diese Stelle
an.«
Neolaras trat neben ihn, bückte sich und strich mit den Fingern über zwei
der Treppenstufen. Der Stein war an einer Stelle geschwärzt und schimmerte
wie Glas. »Das war kein Brandgeschoss. Zumindest kenne ich keines, das
eine solche Hitze entwickeln könnte.«
»Du hast recht. Der Stein ist geschmolzen. Zwar nur an der Oberfläche,
doch die Hitze muss enorm gewesen sein.«
»Auch dort an der Türeinfassung und an der Wand des Turms sind solche
Stellen.« Neolaras trat neben die metallene Tür und betastete den Rahmen.
»Und hier ist ein Loch im Metall.« Er schob seine Hand durch die Öffnung
und schüttelte den Kopf. »Als habe man eine glühende Lanze
hindurchgerammt.«
»Ich kenne keine Waffe und keinen Zauber, die das bewirken könnten.«
Elgeros wandte sich um und gab seinen Männern einen Wink. »Fünf von euch
durchsuchen die Gebäude, die anderen halten die Mauer. Gebt der Truppe
Zeichen, dass sie einrücken soll.« Er senkte seine Stimme und sah seinen
Freund an. »Ich glaube nicht, dass uns noch Gefahr droht. Hier werden wir
kein lebendes Wesen mehr finden.«
Durch die offen stehende Tür fiel nur wenig Licht in den Raum, der sich
über die ganze untere Ebene des Turms erstreckte. Er wirkte ungemütlich und
kalt und strahlte eine finstere Drohung aus. Nur einige Tische und Bänke
standen umher, und in der Mitte befand sich eine erkaltete Feuerstelle. Hinten
erhob sich das gemauerte Rund des Brunnens von Niyashaar, und eine
steinerne Treppe führte an den Wänden entlang hinauf zu den oberen Ebenen.
Ein hölzerner Waffenständer war umgestürzt, und einige Waffen lagen auf
dem Boden verstreut.
Elgeros zog fröstelnd die Schultern zusammen und bewegte sich zur
Treppe hinüber. Misstrauisch spähte er nach oben und betrat dann zögernd die
Stufen. Neolaras folgte, und ihre Schritte hallten hohl in dem Gemäuer wider.
Auf der nächsten Ebene lagerten ein paar Notvorräte und es gab einfache
Schlafstätten. Hier oben war Ordnung und es wirkte ganz so, als habe die
elfische Besatzung aufgeräumt, bevor sie verschwunden war. Die Decken
waren sorgsam gefaltet und an einem der Bettgestelle lag eine Schriftrolle
bereit, die nur darauf zu warten schien, dem Ruhe suchenden vor dem Schlaf
noch etwas Entspannung zu bieten. Ob es auch hier die eigentümlichen
Brandspuren gab, konnten die Elfen nicht feststellen, denn dazu war es zu
dunkel. Aber sie bezweifelten es. In diesem Raum war sicherlich nicht
gekämpft worden.
Im Hof waren Kommandos zu hören, als die Hundertschaft einrückte. Man
vernahm das Zufallen der Torflügel und die Geräusche von Männern, die auf
die Wehrmauer hasteten.
Elgeros deutete über sich und dann machten sich die beiden Führer daran,
auch noch die zwei oberen Turmebenen zu durchsuchen. Dort fiel durch die
Schießscharten genug Licht ein, sodass sie Einzelheiten der Einrichtung
erkennen konnten. Die Öffnungen in den Turmmauern waren mit Klarstein
geschlossen, der die Witterung draußen hielt und freie Sicht gewährte. Er war
von hervorragender Qualität und verzerrte nicht den Blick. Auch die
Menschen verstanden sich inzwischen darauf, feinen Quarzsand zu schmelzen
und mit Zusätzen zu versehen, sodass der durchsichtige Klarstein entstand.
Aber die Scheiben, welche sie daraus fertigten, waren dick und von Schlieren
durchzogen.
Neolaras trat an eine der Fensteröffnungen und blickte in den Hof hinunter,
während Elgeros den Raum absuchte. Er war im Lauf der Jahrtausendwenden
mit liebevollen Details versehen worden und hatte viel von seiner
ursprünglichen Zweckmäßigkeit und Kälte verloren. Der Boden aus feinen
Hölzern wies Einlegearbeiten auf, und dick gewobene Tücher in bunten
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