einem anderen Zeichen. Er galt nicht einfach der Pflege der Beziehungen zu
dem hiesigen Haus, sondern der Fahrt mit einem von dessen Schiffen. In den
fünfhundert Jahren ihres jungen elfischen Lebens hatten sie noch keine Fahrt
mit einem der Schiffe unternommen, und obwohl das Wesen der Elfen von
Natur aus dem Neuen gegenüber aufgeschlossen war, empfand Lotaras
instinktiv Scheu vor der unendlich wirkenden Weite des Meeres.
Die Geschwister waren mehrere Tage gereist und hatten dabei den Weg zu
Fuß zurückgelegt. Obwohl Elfen hervorragende Reiter waren und gerade die
beiden Geschwister nach ihren früheren Erlebnissen mit den Pferdelords
gelernt hatten, einen guten Ritt zu schätzen, war es bei den Häusern des
Waldes nicht üblich, zu reiten. Zudem reisten sie nur äußerst selten, wenn sie
das Gebiet ihres eigenen Hauses verlassen mussten. Im Reich der weißen
Bäume würden die Geschwister ein paar gute Pferde erwerben, mit denen sie
dann zu ihren Freunden mit den grünen Umhängen reiten würden.
Sie standen ein Stück oberhalb des Strandes auf einer der kleinen
Plattformen, die einen wundervollen Ausblick über die Bucht und das Meer
boten. Wundervoll vom Standpunkt eines Elfen aus betrachtet, der diesen
Anblick gewöhnt war, doch Lotaras fühlte sich dabei überhaupt nicht wohl.
»Es wackelt.«
Leoryn riss sich vom Anblick der zahlreichen Schiffe los und sah ihn
verwirrt an. »Was wackelt?«
»Das Wasser.« Lotaras wies mit einer unbestimmten Geste über die
glitzernde Wasserfläche, die in verschiedenen Farbtönen von Grün bis Blau
schimmerte.
Seine Schwester lächelte sanft. »Es ist nicht viel anders als die Fahrt mit
dem kleinen Boot auf dem Waldsee. Erinnerst du dich?«
Welcher Elf vermochte schon zu vergessen, von der Schröpfung einmal
abgesehen? Doch Lotaras hatte noch keine Schröpfung hinter sich und
erinnerte sich daher noch sehr gut an die Fahrt mit dem kleinen Boot. Viel zu
gut, für seinen Geschmack. »Auch das hat gewackelt.«
Leoryn lachte leise auf. Die ungewohnte Wortkargheit ihres Bruders
verriet ihr seine Unsicherheit. »Es wackelte, weil du so herumgezappelt hast.
Du wolltest sehen, wie ich ins Wasser falle.« Sie lachte perlend. »Doch dann
ist das ganze Boot umgekippt, und wir sind beide nass geworden.«
Lotaras musste in ihr unbeschwertes Lachen einstimmen, doch dann wurde
er wieder sehr ernst. »Es hat dennoch gewackelt.«
Der stete Wind, der vom Meer aus übers Land strich, ließ ihre
weißblonden Haare wehen und brachte den salzigen Geruch des Wassers mit
sich. Leoryn legte ihre Hand kurz über die des Bruders und wies mit der
anderen in die Bucht hinab. »Diese Boote dort sind viel größer.«
»Auch sie werden wackeln.«
»Aber sie werden nicht umkippen«, versicherte Leoryn und zog ihn mit
sich. »Nun komm schon, Lotaras, was soll das Haus des Seevogels von dem
der Lilie halten, wenn die Kinder Elodarions Furcht vor dem Wasser haben?«
Lotaras schob seinen Bogen und den Pfeilköcher gerade, nahm die
Provianttasche vom Boden auf und folgte ihr missmutig. »Ich habe keine
Furcht vor dem Meer. Ich mag nur nicht, wenn es wackelt.«
Der Weg, dem sie folgten, führte sie an der Steilwand der Klippe entlang
zur Mitte der Bucht. Er war aus Hölzern gebaut, zwischen denen hier und da
der nackte Fels der Klippe hervortrat, der an diesen Stellen von den
unzähligen Füßen, die den Weg zuvor genommen hatten, glatt geschliffen
war. Die Streben des schmalen Geländers hatten die Form aufrecht stehender
Fische, die farbenfroh schillerten.
Nachdem die beiden jungen Elfen den Grund erreicht hatten, schritten sie
über den weißen Sand auf eine Gruppe von Männern zu. Ein schlanker Elf
trat aus der Gruppe hervor und winkte freundlich. Auf den ersten Blick
ähnelte seine Kleidung jener der Geschwister, aber als Lotaras und Leoryn
näher kamen, erkannten sie feine Unterschiede. Der Mann trug den hoch
aufragenden Helm des elfischen Volkes mit dem Symbol seines Hauses,
einem Seevogel, der seine Schwingen weit ausbreitete. Die Seiten des Helmes
waren jedoch fein ziseliert und zeigten die Struktur von Schuppen. Über
seinem Gewand trug der Mann einen Panzer aus metallen blitzenden
Schuppen, was typisch für die seefahrenden Häuser war, während die des
Waldes feste Harnische bevorzugten. Sein Gewand war kürzer als das von
Lotaras, wenn auch aus dem gleichen weichen Stoff und mit den gleichen
elfischen Symbolen und Stickereien verziert. Er trug einen breiten roten
Schwertgurt, an dem das lange, leicht gekrümmte Schwert der Elfen befestigt
war. Nur sein blauer Umhang schien mit dem von Lotaras und Leoryn
identisch, wenn man einmal von der Spange absah, die ihn zusammenhielt.
Bei den Angehörigen des Hauses Elodarions hatte die Spange die Form einer
Lilie, bei diesem Mann waren es, wie schon zuvor auf seinem Helm, die
Schwingen eines Seevogels.
»Ich bin Herolas aus dem Hause des Seevogels und Kapitän der
›Sturmschwinge‹«, sagte er freundlich und neigte grüßend den Kopf.
»Lotaras und Leoryn aus dem Hause Elodarions«, erwiderte Lotaras.
Sturmschwinge – der Name hatte etwas Unheilvolles an sich. Er blickte seine
Schwester ahnungsvoll an. »Es wird wackeln.«
Herolas betrachtete die Geschwister verständnislos. »Was wird wackeln?«
»Er meint dein Boot, Bruder Herolas«, sagte Leoryn freundlich.
»Es ist ein Schiff und kein Boot«, erwiderte Herolas. »Ein Pfeilschiff, um
genau zu sein, denn es schnellt wie ein Pfeil über die Wogen des Meeres
hinweg, durchteilt die Stürme und …«
»Ich will es nicht erwerben«, unterbrach ihn Lotaras unhöflich. In seiner
Vorstellung beschworen die bildhaften Worte schreckliche Szenarien herauf.
»Wir wollen es nur nutzen.«
Herolas runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Mein Bruder aus dem Hause
Elodarions ist wohl noch nie zur See gefahren?« Er lächelte gutmütig. »Seid
ohne Sorge, Bruder Lotaras, es mag dir ein wenig schwankend erscheinen,
aber es wird euch beide sicher ans Ziel bringen. Aber nun folgt mir. Ich zeige
euch die ›Sturmschwinge‹.«
»Ich sagte dir doch, dass es wackeln wird«, brummte Lotaras seiner erneut
auflachenden Schwester zu.
Sie schritten an einer Gruppe elfischer Männer vorbei, die nur leicht
bekleidet waren und gerade den Rumpf eines neuen Schiffes fertigten.
Herolas bemerkte die neugierigen Blicke der beiden Waldbewohner und
deutete zu den Arbeitern hinüber.
»So baut man ein Schiff. Ganz gleich, ob es eines der schnellen
Pfeilschiffe, der plumpen, aber fast dreimal so großen Transporter oder der
starken Kampfschiffe wird, die den Feuertod über große Entfernung bringen,
immer legt man zuerst den Fuß des Schiffes. Er muss fest und biegsam
zugleich sein, denn er verschafft dem Schiff Halt, wie es der Fuß eines
Mannes auf dem Boden zu Land tut. Die geschwungenen Rippen bieten
später den Planken Halt, die den Rumpf außen bedecken. Sie werden von
unten beginnend am Skelett des Schiffes befestigt und überlappen einander
ein wenig.« Skelett. Ein Begriff, der in Lotaras erneut ein unbehagliches
Gefühl hervorrief. »Die Bretter müssen sorgfältig geglättet werden, damit das
Schiff gut gleitet. Wir versehen sie zu diesem Zweck mit einem feinen
Goldüberzug. Das Zeug lässt sich leicht verarbeiten und sieht ganz hübsch
aus. Zudem verhindert es, dass sich zu viele Muscheln und Algen am Rumpf
absetzen. Seht ihr die Stellen, wo sich die Bretter überlappen? Dort gießen
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