Das passt alles zu dem, was ich durch Beobachtungen verschiedener Vogelspäher bestätigt bekam. Ein junges Mädchen ist im vorigen und in diesem Sommer zum Kloster »Das heilige Kreuz« gereist. Es war mehrere Wochen im Vorjahr dort, jetzt sind es bereits wieder vier Wochen.
Das muss also eine junge Auserwählte sein, die sich von Erdmuthe ausbilden lässt.«
Hämisch grinsend antwortet einer aus der Runde: »Ich kenne deine Informationen nicht im Einzelnen, und kann deine Folgerungen somit nicht bestätigen, trotzdem meine ich, wir sollten dort einen Besuch machen! Den Armreif dieser Auserwählten müssten wir leicht bekommen können!«
»Genau das meine ich auch. Um sicher zu gehen, sollten wir alle gemeinsam dort nachschauen. Wir nehmen zu unserer Unterstützung lediglich jeder fünf meiner Wolfskrieger mit. Die können wir als Kundschafter vorausschicken. Ein Fehlschlag ist ausgeschlossen. Ein junger Auserwählter und Erdmuthe können unserer gemeinsamen Macht nicht widerstehen!«
Sie stehen gemeinsam auf und sind kurz darauf verschwunden.
AUFWACHEN.
Eila ist verwirrt. Was hat das zu bedeuten? Sie setzt sich auf und grübelt, dann wird ihr die Bedeutung klar. Durch das kleine Fenster der Schlafkammer sieht sie bereits den Morgen grauen, also zieht sie sich an.
Unten wartet Finley bereits auf sie. Er hat einen kleinen Imbiss vorbereitet und holt jetzt zwei dampfende Tassen mit Tee aus der Küche. In kurzer Zeit haben sie gegessen, auch Albin hat etwas bekommen. Als das Mädchen seinen Traum und dessen Deutung erzählt hat, stimmt er zu.
»Genau, das ist vor ihrem Erscheinen hier gewesen. Es beweist, dass unsere Vermutungen richtig sind. Die Dubharan wollten dich und Erdmuthe überfallen und deinen Armreif erbeuten. Sie haben übers Land verteilt Spitzel, vermehrt aber in der näheren Umgebung der verschiedenen Ausbilder. Wir hätten besser daran getan, in der Nacht zu wandern!« Obwohl es so klingt, schaut er sie nicht vorwurfsvoll an.
»Vielleicht ist es besser so, da wir jetzt wissen, dass mit einer größeren Anzahl an Spähern im Bereich der Ausbilder zu rechnen ist. Auch in der Nacht hätten wir so einem Beobachter begegnen können, ohne von der möglichen Gefahr der Entdeckung zu wissen.«
Eila macht eine Pause und grübelt. »Natürlich kann man am Tag bereits aus größerer Entfernung gesehen werden. In der Nacht muss man schon sehr dicht an so einen Späher herankommen, bevor man auffallen würde. Obwohl: eine Eule kann in der Nacht sehr gut sehen, und sie fliegt lautlos. Wir hätten so einen Späher nicht einmal bemerkt!«
»Dann ist es vermutlich am Tage doch sicherer!«, stimmt er ihr zu.
»Wir müssen möglichst in Deckung wandern und sollten Pfade durch unbewohnte Gegenden nutzen. Wenn wir dann doch ein Lebewesen bemerken, müssen wir den Zauber des Vergessens anwenden!«
»Welchen Zauber meinst du, den kenne ich noch nicht«, erstaunt blickt der junge Zauberer Eila an.
»Den habe ich bei Erdmuthe gelernt. Bist du in deiner Ausbildung denn nicht auch bei ihr gewesen?«
»Nein, sonst hätte Erdmuthe mich doch gleich erkannt, als wir im Sommer zu ihr kamen, oder? Nicht jeder Zauberer lässt sich in allen Bereichen der Zauberei ausbilden. Das hängt sehr stark von dessen Vorlieben und natürlich auch von seinen Talenten ab. Jetzt erkläre mir den Zauberspruch. Ich lerne gerne dazu!«, fordert er die junge Zauberin auf.
»Der Spruch war auch Teil meiner Schutzzauber gestern. Ich habe ihn darin aber nur kurzzeitig wirkend genutzt, da eine länger anhaltende Amnesie den anderen sicher aufgefallen wäre. –
Zu unserem Schutz müssen wir aber die stärkste Variante nutzen: »Anghofio totalus« bewirkt eine vollkommene Amnesie. Das können wir bei Tieren sicher problemlos nutzen, bei Menschen sollte »Anghofio« ausreichend sein. Das bewirkt nur einen kurzzeitigen Gedächtnisverlust. Ich möchte nicht, dass möglicherweise unschuldige Personen plötzlich ihre Familien nicht mehr kennen.«
»Ich werde diese Zauber unterwegs üben, wir sollten sie jederzeit anwenden können«, antwortet er.
»Gut, dann brechen wir jetzt auf.«
Nachdem sie das Haus verlassen haben, wandern sie in den noch jungen Morgen. An den Gräsern hängende Tautropfen glitzern in den ersten Strahlen der Sonne. Sie gehen an den Mauerresten der Klosterruine vorbei und durchschreiten die Torpfosten der ehemaligen Klostermauer.
Nach einer halbstündigen Wanderung biegen sie von dem Weg Richtung Moor in einen schmalen Pfad ein. Dieser windet sich durch eng stehende, junge Bäume, die ein geschlossenes Blätterdach über ihnen bilden. Es riecht leicht moderig und an einigen Stellen sind dunkelbraune Pilze auf dem Waldboden zu sehen.
Der Pfad ist hin und wieder mit alten Steinplatten belegt. Er muss früher von den Klosterbewohnern genutzt worden sein. Aber heute liegt er einsam vor ihnen. Kein anderes Lebewesen zeigt sich, weder am Boden, noch in den Zweigen der Bäume und auch nicht in der Luft.
Trotzdem sind Finley und Eila vorsichtig und wachsam, während Albin in einem geringen Abstand vorausläuft. Ab und zu bleibt er stehen, um sich nach ihnen umzusehen. Dann läuft er wieder weiter.
Die Wanderung unter dem Blätterdach ist angenehm. Der langsam aber stetig steigende Pfad beschreibt manchmal große Bögen, so dass sie meinen, nicht vorwärts zu kommen. Jetzt geht es plötzlich recht steil abwärts. Es zeigen sich immer öfter moosbewachsene Sandsteine. Zusätzlich erschwert Geröll auf dem Weg das Gehen. Während sie, um sich blickend, die Landschaft nach Spähern absuchen, können sie nicht immer auf die Beschaffenheit des Pfades achten. Darum ist es gut, dass beide festes Schuhwerk tragen. Mit einem umgeknickten Fuß würde ihre Wanderung zu Sisgard erheblich verzögert werden.
Sie hören das Plätschern eines Bachs, den sie bald darauf erreichen. Albin steht bereits mit seinen Vorderpfoten im Wasser und säuft schlabbernd. Die jungen Zauberer schöpfen mit den Händen etwas von dem klaren Nass und trinken ebenfalls. Auf großen Steinen am Bachlauf rasten sie eine kurze Zeit, um anschließend weiter dem Pfad zu folgen.
Der Weg wird von dem lustig murmelnden Bach begleitet, bis sie zu einer schmalen Steinbrücke kommen. Nach deren Überquerung folgt ein steiler Hang. Eila hält mit Finley Schritt, sie atmet nicht einmal schneller. Ihre Trainingsstunden mit Achaius und Deirdre haben sie nicht nur in Selbstverteidigung geschult, sie stärkten auch ihre Kondition.
Während sie den Berghang erklimmen, lichten sich die Bäume. Das Blätterdach ist nicht mehr geschlossen, so dass sie immer wieder nach oben schauen, ob dort vielleicht Vögel auffliegen oder kreisen.
»Anghofio totalus«, hört Eila ihren Begleiter rufen, während sein ausgestreckter Arm auf eine mächtige Eiche vor ihnen zielt. Sie sieht auf einem ihrer unteren Äste eine Saatkrähe, die ihre bereits gespreizten Flügel wieder sinken lässt und an ihren Körper legt. Sie reagiert nicht mehr auf die beiden Wanderer, selbst dann nicht, als diese auf dem Pfad direkt unter ihr stehen bleiben.
Zufrieden lächelnd sagt Finley: »Das hat ja gut funktioniert. Diese Krähe wird uns nicht verraten!«
Sie wandern weiter, aber beide schauen vorsichtshalber noch einmal prüfend zurück. Nein, der Vogel verlässt seinen Platz nicht.
Es dauert nicht lange, und der schützende Wald liegt hinter ihnen. Sie kommen hin und wieder an einigen Holunderbüschen, Krüppelkiefern oder Brombeerranken vorbei, die aber immer seltener werden, je höher sie den Berghang erklimmen.
Menschen sehen sie nirgends. Viele von ihnen aufgescheuchte Kaninchen werden ebenso wie einige Dohlen mit dem Vergessenszauber belegt. Als sie endlich den Bergrücken erreichen, ist es schon früher Nachmittag. Die Spätsommersonne hat noch erhebliche Kraft, so dass beide nach einer Rastmöglichkeit ausschauen. In einiger Entfernung sehen sie einen Unterstand für Schafe, in dessen Schatten sie sich im Gras niederlassen.
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