Ich blickte den Amerikaner fragend an, doch er fiel auf den Trick nicht herein. Zurzeit war er wieder nichts als ein schweigender, trauernder Indianer mit unergründlichen Augen. Irgendwie fing ich an, mich an ihn und sein Blitzgrinsen zu gewöhnen, hoffte aber, gleich nach Feierabend wieder zur Vernunft zu kommen.
In diesem Moment stieß ein Fuß beherzt die Tür vom Hinterzimmer auf, und auf einem Aluminiumgestell mit Rädern rollten die beiden Abgesandten des Beerdigungsinstituts Koslowski James‘ Sarg vorbei.
„Hey, ihr beiden“, begehrte ich gereizt auf, während sich Fionas Söhne verschreckt an die Wand drückten, und Zoe dem Sarg ungerührt einen freundschaftlichen Klaps verabreichte, als er vorüberrollte. „Ging das nicht auch über den Hof?“ Ich hatte keineswegs vor, mich an einen Leichendurchgangsverkehr zu gewöhnen.
„Der Heribert sagt, wir können vorn raus, wenn keine Kundschaft da ist“, erklärte der vordere der beiden.
„Und? Seid ihr blind, oder sind wir unsichtbar? Ich habe Kundschaft!“ Das Interessante an meiner Einstellung zur Arbeit ist, dass ich es hasse sie anzutreten, mich aber sofort mit ihr identifiziere, sowie ich drin bin. Egal, in welchen Job es mich verschlägt. Letzten Weihnachten entdeckte ich meine außergewöhnliche Begabung im Straßenverkauf von Tannenbäumen.
„Als wir kamen, war da noch niemand“, nörgelte der Hintere.
„Dass ihr nichts gesehen habt, liegt an den Mach3, mit denen ihr hier durchgesaust seid. Ein ICE sieht die Ameise auch nicht, die auf den Schienen hockt. Das nächste Mal geht’s vielleicht etwas zivilisierter, und ein nettes kleines Hallo zur Begrüßung wäre auch nicht verkehrt.“
Sie verschwanden mitsamt der Leiche, und die Atmosphäre im Raum lockerte sich wieder ein wenig auf. Der Indianer tastete sich an einen der Stühle heran, und Edgar tat es ihm gleich und begann umständlich seine Brille zu putzen. Somit war die Platzfrage geklärt. Ich stand auf, rollte Zoe meinen Bürostuhl um die Ecke und hockte mich ein weiteres Mal an diesem Tag auf die Schreibtischkante, während ich auf meinen Gedankenzettel unter die Rubrik Kuhn abknapsen Stuhl schrieb.
„Eins verstehe ich nicht“, begann ich erneut, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, dass die beiden Bestattergehilfen von Koslowski gerade meinen neuen Spitznamen Xanthippe in die Welt hinaustrugen. „Ich möchte natürlich nicht indiskret sein, aber keiner von Ihnen scheint für Fiona Sympathie oder gar Liebe aufzubringen. Warum dann der Umstand mit der Aufbahrung? Ich meine, mit einem Loch im Kopf und diesen Gräulichkeiten, die die Pathologen wahrscheinlich mit ihr und Bruno angestellt haben, ist es doch seltsam, solchen Aufwand zu betreiben. Mal davon abgesehen, dass es auch ein paar Euros kostet?“ In diesem Moment schoss mir siedend heiß durch den Kopf, dass ich gerade Brunos Namen genannt hatte, obgleich er bisher nicht ein einziges Mal gefallen war. Ich merkte, wie mir die Farbe aus den Wangen wich, und ich merkte, wie Zoe es bemerkte. „Tut mir Leid“, stieß ich hastig hervor. „Ich habe mich immer noch nicht an den Gestank dieser Einbalsamierungstinktur gewöhnt.“
Der Indianer sah aus, als würde er gleich vom Stuhl kippen, und Edgar begann trocken zu würgen. Ich wurde noch blasser und kramte aus dem Papierkorb die Schnapsflasche, die ich bei der Durchsicht der Schubladen ausgegraben hatte. Sie wanderte von Mund zu Mund, und ich hoffte inständig, dass sie wirklich Schnaps enthielt und kein Embalming Flower mit einem Schuss Sandelholz. Doch was auch immer uns durch die Kehle rann, es wirkte dahingehend, dass sich meine Kundschaft wieder beruhigte. Ich mich ebenfalls.
„Sie erwähnten vorhin Bruno“, begann Zoe das Gespräch von Neuem, während die Männer den Schnaps noch unter sich kreisen ließen. „Kannten Sie ihn?“
„Nein!“ Ich versuchte so glaubwürdig wie möglich zu klingen und fragte mich, ob Zoe die Beschreibung von der etwas übergewichtigen Mordverdächtigen, die per Fahrrad flüchtete, gelesen hatte und gerade ihre Vergleiche anstellte. „Aber der Name stand ein paar Tage lang jeden Morgen in der Zeitung, genauso wie der von Frederike Kamm alias Fiona McCullen. Aber bei Bruno konnte ich mir nur den Vornamen merken. Vom Nachnamen ist mir so, als ob er mit C anfing, aber mehr bekomme ich nicht zusammen.“
„Cassebohm“, sagte Zoe, musterte mich aber immer noch aufmerksamer, als mir lieb war. „Hatten Sie nicht gerade erwähnt, Sie läsen keine Zeitung? Na ja, wie auch immer - wie heißen Sie eigentlich?“
„Pusch! ... Amaryllis Pusch.“ Ich nuschelte das Pusch zu einem Psch zusammen und beglückwünschte mich zu meiner Geistesgegenwart, nicht Delia gesagt zu haben.
„Amaryllis, was für ein wunderschöner Name. Ein Name, so außergewöhnlich, dass ich ihn bestimmt nicht wieder vergesse. Woher kommt er?“
Scheiße, dachte ich spontan. Bloß das nicht. Vergiss ihn ganz schnell wieder.
„Als ich geboren wurde, waren meine Eltern gerade in ihrer Flower-Power-Phase, hörten Peter, Paul and Mary und guckten Woodstock im Fernsehen. Damals wollten sie aus ihrem Bauernhof eine Landkommune machen, aber die anderen Bauern waren dagegen, und so mussten sie sich damit begnügen, ihren Kühen Blumenkränze umzuhängen und ihr Kind Amaryllis zu nennen.“ Eigentlich war ich auf den Namen Amaryllis Magnolia Pusch getauft worden, hatte mich aber schon mit fünf Jahren in Delia umbenannt. Die Lieblingskuh unseres Nachbarn hieß so, aber mir half der Name wenig. Ich buhlte nach wie vor vergeblich um die Gunst meiner Eltern. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als ich auszog, hatte sie das Dorf bereits zu biederen, abgekämpften Bauern umerzogen, die mit den Sorgen um die Gerstenernte zu Bett gingen und mit den Sorgen um die Heuernte wieder aufwachten. Als ich ihnen Eiko ankündigte, schien mir einen Moment, als erwögen sie, mich unter der Dorflinde vor dem Feuerwehrhaus steinigen zu lassen, doch dann begnügten sie sich damit, uns die Tür zu weisen.
„Tragisch, sein Lebensziel den äußeren Zwängen opfern zu müssen.“ Zoe betrachtete melancholisch ihre knochigen Finger. Auch sie trug jede Menge Ringe, und ich fragte mich, ob das Bedürfnis, sich mit Gold und Silber zu behängen, wohl in den McCullen’schen Genen verankert war. „Aber wenigstens waren die Kühe glücklich. Und Sie sind mit Papa und Mama aufgewachsen und nicht mit einem Trinker oder im Waisenhaus. Womit wir wohl wieder bei Ihrer Frage nach dem Warum das alles? wären, nicht wahr?“
Ich nickte. Wenn der zwinkernde Edgar und sein Halbbruder nicht bald die Flasche zur Seite stellten, würden sie Arm in Arm aus dem Laden torkeln.
„Die Sache ist die: Fiona und Bruno sind tot, und wir hier, weil wir erben wollen. Sie wissen schon,“ an dieser Stelle holte sie tief Luft und summte die Melodie zu dem Marilyn Monroe-Song Money makes the world go round, the world go round ...
„Zoe, bitte, hör mit dieser Summerei auf. Du bist nicht deine Mutter, du hast zwar ihre Stimme, aber der liebe Gott hat vergessen, dir eine Tonleiter mit in die Wiege zu legen.“ Edgar klang gequält. In seiner Gegenwart hatte sie vielleicht schon das eine oder andere Mal gesummt.
„Du bist ein humorloser Holzklotz, Edgar Kamm. Aber bitte, wie du willst. Der langen Rede kurzer Sinn. Es gibt nichts mehr zu erben. Was immer es gewesen ist, und die Gerüchte reichen von einem mit Centstücken vollgestopften Sparstrumpf bis hin zu Obligationen im Wert von mehreren Millionen, jetzt es ist weg. Entweder hat es nie existiert, oder aber die Mörder haben gründlich aufgeräumt. Kein Bargeld, kein Sparbuch, nicht einmal ein einziger goldener Kerzenständer. Wir sind um die halbe Welt gejettet, jedenfalls der eine oder andere von uns, und stehen nun vor dem Nichts. Also haben wir unsere tote Mutter verkauft.“ Sie beugte sich plötzlich vor, riss Edgar die Schnapsflasche aus der Hand und trank in zwei, drei großen Schlucken den Rest aus. „Ich bin nicht stolz darauf, ganz bestimmt nicht, aber andererseits kann sie wenigstens nach ihrem Tod was für uns tun.“
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