„Ich glaube kaum“, brachte ich einsilbig über die Lippen.
„Aber die meisten Leute sind eben Kunstbanausen. Sie wollen nur diesen widerwärtig friedvollen Ausdruck auf dem Gesicht der Leiche sehen. Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie friedlich unser Kläuschen schläft auf seiner Wolke da oben im Himmel, wo die Engelein über ihn wachen.“ Kuhn schnaufte und machte in das eine Ende vom Katgut einen dicken Knoten. „Alles, was sie von uns wollen, ist unsere Hilfe, sich selbst zu belügen.“ Er hob in einer abrupten Geste die Hände, und Nadel und Katgut verschwanden in seiner Einsteinfrisur.
„Au, verdammt.“
Ich half ihm, sich zu befreien, was hieß, dass ich ihm die Spitze der Nadel aus dem Ohrläppchen ziehen und das Blut stillen musste. Ihn kümmerte es nur am Rande. „Welches Kläuschen stirbt schon friedlich, wenn es unter die Räder eines Sattelschleppers gerät, he? Stattdessen könnten sie doch auch sagen: Guckt mal, Oma, Opa und Cousine, wie gut der Onkel unser Kläuschen wieder hingekriegt hat. Alles sitzt wieder da, wo es mal gesessen hat. Das Ohr, die Nase und sogar das Bein sind wieder dran. Und guckt mal, was für zierliche Stiche. Viel ordentlicher als die von Tante Rosa auf dem Kreuzstichdeckchen.“
An dieser Stelle prustete ich los. Der wild herumfuchtelte Kuhn, der sich die Nadel ins eigene Ohr rammte, seine flammende Rede über die Nichtwürdigung seiner Kunst und Tante Rosa mit ihrer Kreuzstichdecke - ich drehte durch. Die nächsten Minuten hing ich wie ein schlaffer Sack über dem Schreibtisch und tat, was ich schon zwölf Monate zuvor hätte tun sollen. Ich lachte. Hysterisch zwar, doch dafür aus vollem Herzen und bis mir die Tränen kamen. Die erste Minute starrte mich Kuhn entgeistert an, und über seine Miene huschten in raschem Wechsel Missbilligung, Ärger und Kränkung, doch dann begann es auch um seine Mundwinkel zu zucken, und nur Sekunden später hallten die Wände seines kleinen Leichenschauhauses von unserem gemeinsamen Lachen wider.
Als wir uns schließlich wieder in den Griff bekamen, mit tränennassen Gesichtern, hockte Kuhn auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand und umklammerte mit seinen knochigen Armen die Knie. Er japste nur noch kläglich. Ich ebenfalls. Mir war, als hätte jemand mein Innerstes nach außen gestülpt und in der Waschmaschine durchgekocht, sodass ich nun - fleckenlos rein - mein Leben neu beginnen konnte. Hier, am Schreibtisch des Thantaopraktikers Kuhn, war ich auf dem Boden des ultimativen Lochs angekommen.
Dachte ich jedenfalls.
Kuhn rappelte sich nur mühsam auf die Beine, der Lachanfall hatte seine letzten Energiereserven aufgebraucht, und sein Akku war so leer wie sein Gesicht.
„Was war das?“, fragte er matt.
„Medizin!“, entgegnete ich. „Und wenn Sie mit Ihrer Leiche fertig sind, dann Abmarsch nach Hause mit Ihnen. Sie müssen schlafen. Und was essen.“
Er hielt die gebogene Nadel mit dem Katgut in die Höhe und musste sich zweimal räuspern, bevor er einen Satz über die noch immer bebenden Lippen brachte. „Der Mund“, krächzte er schließlich. „Ich muss erst noch den Mund machen und dann den Bestatter anrufen, dass er James abholt. Heute Nachmittag ist die Aufbahrung.“
„James?“
„James Dean. Ich hab‘ da hinten einen Klienten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit James Dean hat. Wissen Sie, wenn ich einen von denen geliefert bekomme, die einem berühmten Filmschauspieler oder Politiker ähneln, helfe ich hier und da gern ein wenig nach, um die Ähnlichkeit zu verstärken. Nur so ein Hobby von mir, nichts von Bedeutung“, fügte er hastig hinzu, als er meinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Ich nenne es Creative Restoration mit Betonung auf kreativ , verstehen Sie?“
„James Dean, ja? Okay, warum auch nicht? Tot ist er ja sowieso.“ Ich dachte kurz nach und versuchte die Vorstellung abzuschütteln, wie sich unter Kuhns begnadeten Händen ein kleines graues Mäuschen auf dem Stahltisch in Marilyn Monroe verwandelte. „Den Anruf beim Bestatter kann ich übernehmen, sofern Sie mir einen kleinen Hinweis darauf geben könnten, wo in diesem Papierwust ich James‘ Papiere finde. Steht heute sonst noch etwas an? Wobei mir einfällt, wo ist eigentlich Ihr Terminkalender?“
Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Da drin“, murmelte er, verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Nadel aber mit einem zerknitterten Blatt Papier zurück, das streng roch und braune Flecken aufwies, deren Herkunft ich keinesfalls wissen wollte. Es war die Auftragsbestätigung zur Präparation der Leiche von Herrn Rolf Brüning, ausgestellt auf den Thanatopraktiker Heribert Kuhn und unterschrieben vom Bestatter Koslowski. Die Telefonnummer stand drauf.
„Gut, dann brauche ich etwas Geld, um Büromaterial zu besorgen. Einen Terminkalender, ein paar Aktenordner und was mir sonst noch als nicht existent aber notwendig auffällt.“
Kuhn nestelte mit dem Ausdruck von Pein in seinem Gesicht einen Zwanziger aus dem Portemonnaie.
„Sehr großzügig, verbindlichsten Dank. Glauben Sie, Sie können sich noch einen Euro für ein Radiergummi aus den Rippen schneiden?“
Heribert Kuhn mochte zwar ein begnadeter Künstler sein, war jedoch aus tiefster Seele geizig und nahm, wenn es ihm in den Kram passte, Ironie buchstäblich für bare Münze. Ich bekam noch einen Euro für Radiergummis, doch sein finsteres Gesicht deutete unmissverständlich an, dass ich die Grenze seiner finanziellen Belastbarkeit überschritten hatte und jeder weitere Versuch auf eine Substanz härter als Diamant stoßen würde.
„Gegen Mittag bin ich wieder da“, knurrte er. „Das tote kleine Mädchen ist zwar gecancelt worden, aber man weiß ja nie, wem es plötzlich einfällt, seinen Hugo doch noch ausstellen zu lassen. Es gibt jede Menge Bestatter im Landkreis, aber ich, Heribert Kuhn, bin der einzige Thanatopraktiker, der sein Geschäft kreativ betreibt, wenn Sie wissen, was ich meine. Bevor Sie also einen Auftrag vermasseln, rufen Sie mich an. Hier ist meine Handynummer.“ Er fischte eine zerknitterte Visitenkarte mit einem blutigen Daumenabdruck aus seiner Kitteltasche.
Kurze Zeit später knatterte und knallte es mörderisch, und als ich aus dem Laden stürzte, schob sich der Kühlergrill eines schwarzen Leichenwagens von Anno dazumal aus der schmalen Lücke zwischen den Häusern, die auf unseren Hinterhof führte. Unter vollem Körpereinsatz gelang es Kuhn, sich auf die Großehofstraße zu kurbeln, dann verschwand er in einer blauen Auspuffwolke im Gewirr der Hamelner Gassen.
Ich kaufte ein paar Aktenordner und einen Terminkalender - fürs Radiergummi reichte es nicht mehr - und verbrachte die nächsten Stunden mit Sortieren und Abheften. Gegen elf kam der Kontrollanruf von Ingeborg Schulze aus dem Jobcenter, die bei dem heiteren Ton meiner Stimme zunehmend mürrischer wurde. Ich bot ihr Sonderkonditionen an, falls sie sich für eine spätere Einbalsamierung vormerken lassen wollte und als Zugabe ein kostenloses Facelifting à la Cher. Sie hängte verschnupft auf. Ich hoffte, sie ließ Uwe für meinen Mangel an Verärgerung leiden.
Während ich sortierte und abheftete, plagte mich der Gedanke an James Dean im Hinterzimmer. Bestatter Koslowski hatte mir versichert, ihn gegen halb zwölf abholen zu lassen, und ich hatte per Computer bereits die formlose Quittung für eine Leichenrückerstattung erstellt, die ich ihn unterschreiben lassen wollte. Sollte eines Tages der Papierberg vor mir abgebaut sein, würde ich mich an die Erstellung von Formularvorlagen in Word wagen.
Um fünf vor halb zwölf hielt ich es nicht mehr aus und steckte meine Nase ins Hinterzimmer. An den Gestank aus Formaldehyd, Fett, Sandelholz und Leiche, der in wechselnder Intensität in jede Ecke des Ladengeschäftes zog, würde ich mich wohl schwerlich gewöhnen. Überall standen griffbereit Geruchsvernichter- und Raumluftsprays herum, doch die Einbalsamierungsmixtur schaffte sie alle.
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