Und nicht nur das. Ich verbarg etwas, was dem Erben gehörte. Doch wer von den Dreien war denn der Erbe? Eine Klausel meines Vertrages mit F.C. lautete: abwarten, bis sich der rechtmäßige Erbe mit der rechtmäßigen Legitimation bei mir meldete. Und schon rückte ich den Hund heraus. Außerdem besaß Churchill kaum mehr als einen nostalgischen Wert, sodass von Unterschlagung oder einer ähnlichen Straftat wohl kaum die Rede sein konnte. Trotzdem fühlte ich mich wie ein Kaufhausdieb, der mit seinen vollen Taschen gerade flüchten will und zwischen sich und dem Ausgang einem Detektiv ins finstere Antlitz blickt.
„Natürlich habe ich von den schrecklichen Morden in der Zeitung gelesen“, krächzte ich mühsam. „Aber aus welchem Grund sollte ich gerade Sie mit dem Drama in Verbindung bringen? Ich sehe selten fern, ich lese keine Zeitung, und begegnet sind wir uns meines Wissens nach auch noch nicht. Außerdem sterben bei uns hier in der Provinz auch Leute, die nicht erschossen werden. Die Medien waren übrigens da, sie sind nur schon wieder weg.“
Edgar und die Frau mit den metallicblauen Haaren blickten sich an, als berieten sie in einer stummen Konferenz über Sinn oder Unsinn des Gehörten. Der Indianer nutzte ihre wortlose, vertrauliche Zwiesprache für ein erneutes breites Grinsen, das er allein mir widmete. Es war, als explodiere eine Leuchtrakete am nachtschwarzen Himmel, und ich fuhr unwillkürlich zurück. Doch unmittelbar darauf verwandelte er sich wieder in einen offiziell trauernden Indianer. Züchtig gesenkter Blick, geschlossene Lippen. Während das Grinsen noch auf meiner Netzhaut brannte, widmeten mir Edgar und die Frau wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Im Laufe unserer Unterhaltung hatte ich mehrfach mit dem Gedanken gespielt, ihnen mit weltmännischer Geste einen Platz anzubieten, doch wir hatten nur zwei Besucherstühle, und ich wollte mit den Dreien nicht unbedingt Reise nach Jerusalem spielen.
Edgar meldete sich nach einer Reihe bronchienbefreiender Räusperer blinzelnd zu Wort. „Ich“, er tippte sich auf die Brust, „bin Apollonius McCullen, Fionas Erstgeborener, und das hier ist meine Schwester Zoe. Der Kerl auf meiner anderen Seite dürfte der letzte Bastard sein, den sie zur Welt gebracht hat. Zumindest konnte die Polizei keine weiteren ausfindig machen. Angeblich ist er ein halber Cheerokee-Indianer. Dancing Wolf oder Crying Coyote, was weiß ich? Er ist der jüngste McCullen und wurde ein knappes Jahr nach der Haftentlassung unserer Mutter geboren. Sie hatte sich mit irgendeinem Häuptling aus irgendeinem Reservat eingelassen. Aber wie üblich verschwand sie nach der Geburt, und es gehen merkwürdige Gerüchte um, ob der Kerl hier tatsächlich Fionas kleiner Indianerbastard ist oder ihr nach dem Tod des echten Kindes nur untergeschoben wurde. Wie auch immer, er hat jedenfalls eine Geburtsurkunde, auf der McCullen steht, also kann man ihm nichts Gegenteiliges beweisen.“
„Heutzutage lässt sich alles fälschen“, warf seine Halbschwester ein. „Ein guter Scanner, ein Farbkopierer, mein Gott, Edgar, siehst du nie fern?“
Das mit dem Scanner stimmte, wie Uwe anhand unserer Mietvertragskopie für den Hartz IV-Antrag bewiesen hatte.
„Die Amis haben Satelliten in den Weltraum geschossen“, fuhr sie fort, „die können von ganz da oben runter den Rattenfänger knipsen, wie er mit den Ratten durch die Straßen dieses netten kleinen Ortes zieht, und dann tauschen die hier und da ein paar digitale Pixel aus, und schon sieht er nicht mehr wie der Rattenfänger, sondern wie Rumpelstilzchen oder der Weihnachtsmann aus.“
„Also erstens machen das mit den Satelliten alle, Zoe. Die Russen, die Japaner, sogar wir. Die ganze Welt jagt da oben rum und bespitzelt sich gegenseitig. Außerdem ist die digitale Verfälschung eines Fotos im Computer doch mittlerweile so alt wie Methusalem“, warf Edgar mürrisch ein. „Die sehen übrigens nich‘ nur den Rattenfänger, diese Satelliten, o nein, die sehen sogar den nassen Fleck auf dem Schnabelschuh des Rattenfängers, da, wo ihm die Spucke aus der Flöte getropft ist. Den Fleck auf seinem Schnabelschuh, ich sag’s dir.“
„Halt die Luft an, Edgar, und denk nach, bevor du so einen Unsinn von dir gibst. Und hör endlich auf, dich als Apollonius McCullen vorzustellen, in deinem Pass steht Edgar Kamm, und du bist der Sohn aus ihrer ersten Ehe mit diesem Nazi. Wie du dich den Zeitungsfritzen gegenüber nennst, interessiert niemanden. Apollonius, ich bitte dich! Übrigens bin ich nach dieser Küsschen-rechts-Küsschen-links-Szene im Fernsehen beinahe auf dumme Gedanken gekommen. Vielleicht, mein Lieber, heißt du gar nicht Kamm, und dein Vater war in Wirklichkeit dieser kleine Kerl mit dem Nasenbärtchen ...“ Sie lächelte süffisant.
Das Gesicht ihres Halbbruders verfinsterte sich. „Noch ein Wort in dieser Richtung, ein einziges Wort, und ich verklage dich auf eine Million Schadenersatz wegen Rufmord. Und zwar in Dollars!“
„Tu das. Das zeigt nur, wes armseligen Geistes Kind du bist. Der Euro steht viel höher im Kurs.“
„Aber Ihr Name ist wirklich Zoe?“, wagte ich eine Zwischenfrage, um einem ernsthaften Streit vorzubeugen.
„Allmut van Heeren, aber bleiben wir bei Zoe. Allmut klingt nach Kuhglockengebimmel. Zwischen diesem Nazi und ihrem amerikanischen Produzenten versteckte sich Fiona in Südafrika vor der negativen Publicity wegen dieser Hitlerszene und noch einigem sonst. Wir waren gewissermaßen das uneheliche Zwischenspiel, bis es ihr bei den Buren zu langweilig wurde. Da färbte sie sich die Haare blond, flog nach Amerika und versuchte es noch einmal als Filmstar. Alles, was sie für ihre Kinder jemals getan hat, außer sie nach kurzer Zeit zu verlassen, war, ihren Namen in den Geburtsurkunden eintragen zu lassen, sodass wir alle gleichermaßen erbberechtigt sind. Wie man sieht, konnte keiner der Versuchung widerstehen, sich das McCullen-Gold unter den Nagel zu reißen. Der Häuptling hier kommt extra aus seinem amerikanischen Reservat, ich aus Südafrika und der liebe Edgar aus Esens in Ostfriesland. Der Häuptling ist Gott sei Dank so stumm wie Edgar schwatzhaft, nicht wahr, du kleiner, dummer Plattfußindianer?“ Sie zupfte ihn am Anzugärmel.
Der Schwarzhaarige nickte freundlich, dann, als sich Edgar und Zoe ansahen und ihre Augen verdrehten, schoss erneut dieses grandiose Grinsen über sein Gesicht, und er zwinkerte mir zu. Offenbar verstand er jedes Wort, war aber entweder ein Mensch mit seltsamem Humor oder ein gerissener Taktiker, der die Konkurrenz bluffte, um an Informationen heranzukommen, die ihm sonst vorenthalten wurden. Edgar und Zoe schienen sich als Halbgeschwister mehr oder minder miteinander abgefunden zu haben, doch den Schiller’schen Wunsch eines amerikanischen Indianers - Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte - als Zumutung zu empfinden.
„Hatte Fiona noch mehr Kinder?“, fragte ich neugierig.
„Wer weiß? Es gehen da so Gerüchte um.“ Zoe klang nicht weniger verbittert als ich, wenn ich mit dem Spiegel über mein verpfuschtes Leben debattierte. „Schätzungsweise zwischen eins und einem Dutzend.“
„Und was ist mit den Vätern?“
„Was soll damit sein? Meiner ertränkte sich nach ihrem Verschwinden im Genever, bis man ihn mit seiner eigenen Leber hätte erschlagen können. Ein Jahr und er war mausetod. Bei dem von unserem Häuptling hier gibt es zwischen Selbstmord und lebt noch etliche Versionen. Und Edgars Nazi-Papa ... Tja, mein Lieber, irgendeine Ahnung, wo er stecken könnte? Peru? Brasilien? Wo ist er wohl abgeblieben?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis“, entgegnete Edgar steif. „Ich war erst wenige Monate alt, als er spurlos verschwand. Wahrscheinlich haben ihn die Alliierten an die Wand gestellt und erschossen. Meine Mutter wird mehr darüber gewusst haben, denn nach allem, was ich hörte, wollten bei Kriegsende beide gemeinsam ins Ausland fliehen, doch nur sie kam an. Mich ließen sie übrigens auf den Altarstufen einer Klosterkirche zurück. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen, das von Nonnen geleitet wurde.“ Er sah einen kurzen Moment lang fromm gen Decke, bevor er mit einem Schauder den Kopf wieder senkte.
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