Er seufzte erneut, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn in die Hände. „Es steht an der Tür: Amtsarzt und Amtspsychiater“, stieß er gequält hervor. „Und es gibt nichts mehr zu besprechen. Sie haben mir Ihr Kümmerchen erzählt, ich habe Ihnen zugehört und werde nun den Bericht fürs Jobcenter schreiben.“
„Wenn Sie mich zwingen, verklage ich Sie.“
„Woraufhin? Sie sind eine stabile, gesunde Person, die psychisch wahrscheinlich mehr wegstecken kann als die meisten anderen. Sie ...“
„Das stimmt nicht, ich leide unter starken Depressionen und kann nicht schlafen. Mein Leben ist zurzeit eine einzige Katastrophe, mein Sohn ist obdachlos, mein Ex ein wandelnder Racheengel, und ich fühlte mich einfach nicht in der Lage, Leichen ihr geronnenes Blut abzuzapfen.“ Ich schrie plötzlich, und hinter mir öffnete sich eine Tür und eine weibliche Stimme fragte: „Alles in Ordnung, Herr Doktor?“
Er nickte, bevor er einen Bogen Papier aus seiner Schublade kramte und eine Art Zehnpunkteprogramm herunterratterte. „Schlafstörungen und Appetitlosigkeit?“
„Ja, sage ich doch.“
Er blickte demonstrativ auf die Fettrolle zwischen Busen und Bauchnabel und murmelte etwas, das wie Lange wohl noch nicht klang.
„Herz- und Atembeschwerden? Zum Beispiel Herzjagen oder Atemnot?“
„Ständig.“
„Mundtrockenheit oder Verstopfung?“
„Sind mir nicht fremd.“ Ich nickte so leidvoll ich konnte.
„Minderwertigkeitsgefühle?“ Die erste Frage, die ich mit einem klaren Ja! beantworten konnte, ohne lügen zu müssen.
„Halten Sie sich für selbstmordgefährdet?“
Ich zögerte und schätzte die Folgen ab.
„Wenn ja“, kam mir Doktor Reimann zuvor, „muss ich Sie aufgrund einer endogenen Psychose in die Psychiatrie einweisen lassen. In diesem Fall bräuchten Sie den Job, der Ihnen angeboten wurde, nicht anzunehmen. Jedenfalls nicht gleich. In vier Monaten vielleicht, wenn Sie als geheilt entlassen werden, und der Posten noch immer frei ist, aber keineswegs sofort. Wenn nein, handelt es sich um vorübergehende Depressionen aufgrund häuslicher Unstimmigkeiten, und ich muss Sie nicht einweisen. In diesem Fall empfehle ich gegen die Schlaflosigkeit Baldriandragees und zur allgemeinen Aufhellung Johanniskraut. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ich verlange ein zweites Gutachten“, knurrte ich und faltete meine Hände auf den nackten Oberschenkeln, um mich davon abzuhalten, ihm ganz langsam die Kehle zuzudrücken. Danach würde ich mich gern einweisen lassen.
„Kein Problem“, entgegnete er, lehnte sich wieder zurück und sackte endgültig in sich zusammen. „Es kostet Sie im günstigsten Fall ein- bis zweitausend Euro, und da es dann gewissermaßen eins zu eins mit den Gutachten steht, wird der Richter wahrscheinlich noch ein drittes Gutachten in Auftrag geben, dessen Kosten Ihnen bei einem Urteil zugunsten des Jobcenters wohl ebenfalls angelastet werden. Und glauben Sie wirklich, einer meiner Kollegen wird sich in einer überschaubaren Stadt wie Hameln und in einer Zeit wie heute so weit aus dem Fenster lehnen, mit einer dubiosen Diagnose einen Drückeberger vom Arbeiten abzuhalten? Wäre das nicht ein gefundenes Fressen für die Presse? - Ihre Urin- und Blutergebnisse können Sie in vier oder fünf Tagen abfragen. Bitte melden Sie sich umgehend bei Ihrem neuen Arbeitgeber. Guten Tag, Frau Pusch.“
Damit war ich entlassen und gleichzeitig eingestellt. Keine Frage, ich war eine Marionette und hatte zu tanzen, wenn der Staat an den Fäden zog. Die alte Binsenweisheit stimmte: Wer zahlt, bestimmt. Einer zweiten Weisheit gedenkend - leerer Magen bringt Zittern und Zagen - ging ich erst mal im Globus frühstücken, und stattete anschließend meinem neuen Arbeitgeber einen Besuch ab.
Herr Kuhn empfing mich diesmal nicht mit einem Willkommenslachen, sondern aus misstrauischer Distanz. Es war ein Machen-Sie-mir-bloß-keinen-Ärger-Blick, den ich gnadenlos zurückgab.
„Herr Kuhn“, begann ich und hockte mich, Ingeborg Schulze als Vorbild, auf die Kante seines Schreibtisches, während er bei meinem Anblick auf halbem Weg zwischen Hinterzimmer und Ladentür stocksteif stehengeblieben war. „Ich bin letzten Mittwoch zu diesem Vorstellungsgespräch bei Ihnen erschienen, weil Sie mir am Telefon weismachten, Ihr Geschäft sei es, für alte Leutchen zu sorgen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Das haben Sie doch gesagt, oder?“
Er nickte, besann sich jedoch eines Besseren: „Mich deucht, ich habe nicht alt gesagt.“
„Leider führten Sie mich insofern irre, dass Ihre Klientel - ob jung oder alt - nicht nur hilflos ist, sondern bereits mausetot. Wenn Sie mich fragen, ein Paradebeispiel für eine arglistige Täuschung. Und von dieser arglistigen Täuschung habe ich eine Riesenbeule am Kopf davongetragen.“ Ich betastete meinen Kopf. „Sie können von Glück sagen, dass ich Ihnen nicht durch Kreislaufversagen unter den Händen weggestorben bin, sonst müssten Sie einer weiteren Leiche den Mund zunähen. Da ich meinen Unterkiefer jedoch noch frei bewegen kann, dachte ich, ich komme mal vorbei und sage Ihnen Bescheid, dass ich keinesfalls die Assistentin eines Thanatopraktikers werden möchte. Nicht einmal die eines Thanatopraktikers Ihres Formats. Dummerweise jedoch fahren Jobcenter und Gesundheitsamt ausgesprochen schwere Geschütze auf, um mich in die Stelle hineinzuzwingen und drohen andernfalls mit einer Streichung der Gelder. Also sollten wir ...“
Seine Miene hellte sich auf. Ich blieb hängen und starrte ihn verdattert an.
„Sie können unmöglich wollen, dass ich gezwungenermaßen bei Ihnen anfange?“, brachte ich, völlig aus dem Konzept geraten, über die Lippen.
„Ich brauche aber eine Assistentin“, murmelte er und blickte zu Boden. Seine skelettartigen Finger verschränkten sich ineinander, und einen Augenblick lang schien es, als bekäme er sie nicht wieder auseinander.
„Sehen Sie, ich sage es Ihnen ganz ehrlich. Ich hasse diese Arbeit, ich verabscheue sie, und ich werde sie nicht lange ausüben können, weil ich einen schwachen Magen habe und ganz bestimmt ständig kotzen muss. Entschuldigung, aber so ist es nun mal. Sie tun weder mir noch sich mit meiner Einstellung einen Gefallen, und wenn ich auch nur ein einziges Mal ohnmächtig werde und mir vielleicht etwas breche - und sei es nur der kleine Finger - oder mir eine zweite Beule hole, dann verklage ich Sie höchstpersönlich. Und zwar mit Pauken und Trompeten.“ Ich stoppte abrupt und wartete auf die Wirkung.
„Ich bin versichert“, murmelte Herr Kuhn. „Außerdem können Sie mich gar nicht verklagen.“
„Und ob ich das kann!“, improvisierte ich mit Nachdruck. „Mir fallen da auf Anhieb zwei Paragrafen ein, die infrage kommen. Außerdem ist mein Nachbar Rechtsanwalt. Da ich Sie auf meine potenzielle körperliche Gefährdung aufgrund unkontrollierter Bewusstseinsausfälle hingewiesen habe, habe ich alles Recht der Welt auf meiner Seite, und ich werde mich nicht scheuen, jedes Fitzelchen davon genüsslich auszukosten.“ Wenn ich Multimillionärin wäre, würde ich eine Armee von Anwälten aufmarschieren lassen, selbst bei nur zehntausend Euro Ersparnissen könnte ich in Erwägung ziehen, mir wenigstens einen Anwalt zu kaufen, aber blank, wie ich war, konnte ich nur bluffen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und mühte mich mit einem Gesichtsausdruck ab, der in die Kategorie gelassen drohend fallen sollte.
Er brauchte eine Weile, um meine Worte in sein Gehirn sickern zu lassen und zu eigenen Überlegungen umzumodeln. „Sie würden mich doch nicht wirklich verklagen, oder? Sie bluffen doch nur.“ Sein Versuch eines belustigten Auflachens misslang aufs Kläglichste.
Ich zog meine Mundwinkel zu einem freudlosen Lächeln auseinander und wartete stumm ab.
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