James Dean lag unter einem Laken begraben, was meine Neugier nicht zu befriedigen vermochte. Alles, was sich von seinem Gesicht abzeichnete, war der Huckel der Nase. Ich schlich mich um den Stahltisch, griff mit spitzen Fingern nach der Ecke des Lakens, überlegte es mir jedoch in letzter Sekunde anders und verschanzte mich wieder hinter den Papierstapeln auf meinem Schreibtisch.
Eine Minute vor halb zwölf blickte ich James Dean dann doch ins tote Antlitz und ließ erschüttert das Laken wieder fallen. Von den Haaren bis zum melancholischen Ausdruck stimmte alles, Heribert Kuhn war zweifellos der begnadete Künstler, für den er sich hielt, auch wenn mir eigenmächtige Kreativität in der Thanatopraxis ein wenig pietätlos erschien. Vor allem, da unser James unter dem Laken altersmäßig mindestens als der Vater des echten Dean, wenn nicht gar als sein Opa durchgehen konnte.
Wie sehr Kuhn in erster Linie Künstler war, bewies mir eine ledergebundene Mappe auf seinem Instrumentenbord an der Wand. Sie enthielt Polaroidfotos von seinen Kunstwerken. Die grauen Leichengesichter von vorn und im Profil vor der Kuhn’schen Behandlung, und die Tom Cruises, Elvis Presleys und Jane Seymours, in die er sie verwandelte. Das bewährte Prinzip des Vorher/Nachher-Schocks. Als ich die Fotokartons einen nach dem andern umschlug, blieb mir förmlich der Mund offen. Es war mehr als nur pervers, es war einfach genial. Vor allem, da ich in dem Papierwust noch keinen Hinweis darauf gefunden hatte, dass irgendein erboster Angehöriger Kuhn jemals verklagt hatte. Ich fragte mich, ob er sich bei der trauernden Ehefrau, die ihren Mann bei ihm ablieferte, im Vorfeld nach ihrem Lieblingsschauspieler erkundigte, und ihn ihr dann - ein zweiter Doktor Frankenstein - einfach erschuf.
Als ich ins Büro zurückwankte, hielt mich die Gänsehaut in eisernem Griff, und beim Anblick des kleinen Grüppchens Besucher zuckte ich ertappt zurück. Zwei Männer und eine Frau standen, schwarz wie die Krähen, mitten im Raum, und im gleichen Moment wurde die Ladentür ein zweites Mal aufgerissen, und zwei ebenfalls schwarz gekleidete Burschen stürmten herein.
„Wer ist es diesmal? Jack Nickolson oder Schröder?“, dröhnte der Bass des einen fröhlich durch den Laden, während der zweite bereits die Tür zum Hinterzimmer aufstieß. Unmittelbar darauf ertönte schallendes Gelächter und ein paar anerkennende Pfiffe. Dann, als James offenbar in seinen Sarg verpackt wurde, begann es zu rumoren, und ich holte tief Luft, um mich der unerwarteten Kundschaft zu stellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich gleich am ersten Tag auf dem schlüpfrigen Parkett der Beileidsbekundungen bewegen zu müssen. Der ältere Mann, mit struppigem Schnurrbart, Brille und blank polierter Glatze, mochte um die sechzig sein, der jüngere etwa in meinem Alter. Er trug die schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihm den halben Rücken hinunterreichte. Obgleich auch die Frau, deren Alter ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit ihrer metallicblau gefärbten Außenrolle und ihrem Übermaß an Schminke durchaus einen zweiten Blick wert war, konnte ich den meinen nicht von dem Mann mit dem Zopf lassen. Die bronzefarbene Haut, die schwarzen Augen, die markante Nase, wenn mich meine Fernsehbildung nicht trog, war Maestro Kuhn gerade ein waschechter Indianer ins Geschäft spaziert.
„Guten Tag, kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte ich höflich und einen Moment lang narrte mich das Gefühl, ich sei in diesem Laden schon zur Welt gekommen. Die drei musterten mich in meiner roten Caprihose und dem grasgrünen, ärmellosen Shirt, dann die Papierstapel auf Boden und Schreibtisch, und wahrscheinlich narrte sie das Gefühl, im falschen Laden gelandet zu sein.
„Sind Sie der oder die Thanatodingsbums?“, fragte der ältere Mann ungläubig.
„Nein, ich ...“ Binde nur Penisse ab, wollte ich gerade antworten, als ich gegen diese Mauer von Schwarz blickte und mir der Ernst der Lage wieder einfiel. Außerdem hatte mich Kuhn gebeten, ihm keine Aufträge zu vermasseln. „Ich bin nur die Assistentin. Für Computer und Telefon zuständig. Herr Kuhn ist der, den Sie suchen. Er ist im Moment leider außer Haus, aber wenn Sie mir Ihr Anliegen kurz umreißen und vielleicht die Telefonnummer dalassen, wird er sich so schnell wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Ich klopfte mir auf die Schulter. Jedenfalls in Gedanken. Es war doch prima gelaufen.
„Gut, ich bin nur etwas verwirrt und hatte eine dem Anlass angemessene Umgebung erwartet.“ Sein Blick verriet, dass er mit der fehlenden angemessenen Umgebung übersetzt mich und mein Outfit meinte.
„Sehen Sie, die Kunst dieses Handwerks besteht doch darin, der Gestalt des Todes ein Schnippchen zu schlagen und den geliebten Verstorbenen optisch ins Leben zurückzurufen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht gerade von einem Grund zur Freude sprechen, ich denke, positiver Kreativismus trifft es eher. Eine Unternehmensphilosophie, der sich stimulativ natürlich auch das Ambiente anzupassen hat.“ Improvisieren beherrschte ich etwas besser als Lügen, doch während mich drei Augenpaare verblüfft anstarrten, überlegte ich, ob es das Wort Kreativismus im offiziellen Wortschatz überhaupt gab, und wenn ja, was zum Teufel es dann bedeutete.
„Ich denke aber doch ein wenig Pietät ...“, erwiderte er mit gerunzelter Stirn und blinzelte nervös hinter seinen Brillengläsern.
„Ach Gott, lassen wir doch diesen müßigen Smalltalk. Komm zur Sache, Edgar, oder halt den Mund“, platzte die Frau plötzlich heraus, und mein Magen verkrampfte sich. Diese samtene Stimme hatte ich doch vor Kurzem erst gehört. „Am besten, du lässt mich das machen. Du bist zu dämlich, und unser kleiner Winnetou hier versteht doch nur Bahnhof.“ Sie holte tief Luft, doch der Herr namens Edgar war schneller, kam aber nicht allzu weit mit seinen Erklärungen.
„Wir wollen eine Aufbahrung. Das heißt, eigentlich brauchen wir zwei Aufbahrungen, denn ..:“.
„Lass sein, Edgar. So wird das nichts. Also, meine Mutter und ihr Ehemann sind vor Kurzem von uns gegangen.“ Edgar und sie blickten pietätvoll auf ihre Schuhspitzen, der kleine Winnetou vergewisserte sich, dass ihn niemand weiter beobachtete, und grinste mich breit an. Ihm war kein Schneidezahn abgebrochen, und sein Gebiss konnte jeden Bären in die Flucht schlagen. Meine Phantasie stellte ihn sich kniend in einem Kanu oder im Lendenschurz mit Pfeil und Bogen vor, wie er über die weiten Ebenen der Prärie in den Sonnenuntergang ritt. Im Anzug mit schwarzer Krawatte wirkte er verkleidet.
„Mein Beileid“, murmelte ich und versuchte, an den Zähnen vorbeizublicken. Woher kannte ich bloß diese samtene Stimme? „Ein Unfall? Ich meine, weil beide auf einmal ...“ Abgetreten? Abgenippelt? In eine bessere Welt gegangen sind? Himmelherrgott, was sagte man bloß. „... verstorben sind?“, stieß ich mit einer Erleichterung hervor, die bei meiner Kundschaft erneut Irritation auslöste. Man tauschte beredte Blicke aus. Nur die tiefschwarzen Augen des Indianers wandten sich nicht von mir ab. Mir schien, sie flirteten mit mir, doch durch mein Leben geisterten schon genug problematische Männer, einen grinsenden Indianer, der gerade seine Eltern verloren hatte, konnte ich keinesfalls brauchen.
„Nein“, entgegnete die Frau finster. „Sie sind erschossen worden. Alle beide, und zwar aus nächster Nähe. Wollen Sie mir etwa weismachen, Sie hätten von dem Doppelmord an unserer Mutter und ihrem Mann nichts mitgekriegt? Es ist eine Schande. Man sollte meinen, die ganze Welt nimmt Anteil an der brutalen Ermordung von Fiona McCullen, doch wo sind sie denn, die Reporterscharen, die Hamelns Gassen verstopfen? Wo sind die Kameraleute, die mir und meinen Geschwistern die Bude einrennen?“
Ich war froh, bereits zu sitzen, sonst hätte ich mir auf dem harten Boden mit Sicherheit das Steißbein gebrochen. Es war, als hätte mir jemand von hinten in die Kniekehlen getreten. Mein Mund wurde trocken, die Stimme blieb mir weg. F.C.! Deshalb war mir die Stimme der Frau so unangenehm vertraut vorgekommen. Vor mir standen die Hinterbliebenen von F.C. und Bruno. Einen Moment lang geriet ich in Panik. Falls ich so schuldig aussah, wie ich mich fühlte, würde gleich die Tür aufspringen und eine Hundertschaft Polizisten das Büro stürmen. Da sitzt sie, die Frau vom Steckbrief. Greift sie euch!
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