Charlie Meyer - Leben - Erben - Sterben

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Delia A. Pusch trauert mit Andacht ihrem alten Leben hinterher. Ihr Lebensgefährte hat sie wegen einer anderen verlassen, ihr Sohn ist von zu Hause ausgerissen, und ihre neue Fallmanagerin im Jobcenter stellt sich als eine verhasste Klassenkameradin aus der Schulzeit heraus.
Um ihre Haushaltskasse aufzubessern, setzt Delia eine Anzeige in die Zeitung: Nehme Aufträge aller Art an und gerät in einen mörderischen Strudel, der sie weit über ihre Grenzen bringt.
Zur gleichen Zeit zwingt das Jobcenter Delia, einen 400-Euro-Job bei einem Bestatter anzunehmen, der seiner Arbeit mit verblüffender Kreativität nachgeht.
Für Delia beginnt ein mörderischer Balanceakt zwischen ihrem Job, einer nimmermüden Fallmanagerin im Jobcenter, der Jagd nach dem abtrünnigen Sohn, einer neuen Beziehung und dem verzweifelten Bemühen, einem Mörder nicht in die Quere zu kommen.

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Er musterte mich stumm von den Sandalen bis zum fahlblonden Haar, und ich beeilte mich weiterzureden. „Sehen Sie, ich kenne die derzeitigen Bewohner. Nicht näher natürlich, einfach so, wie man sich vom Sehen und Grüßen eben kennt. Die alte Dame im Rollstuhl meine ich und ihren Butler Bruno. Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob sie das Haus wohl verkaufen würde. Ich hätte sie natürlich anschreiben können, aber am Tor stehen nur ihre Initialen, F.C., und ich fürchte, es hört sich ein wenig unglücklich an, den Brief an eine Sehr geehrte F.C. zu richten. Einfach ins Haus platzen möchte ich auch nur ungern, und da dachte ich, ich erkundige mich vorher bei einem ihrer Nachbarn.“

Unbotmäßig langes Schweigen macht mich immer kribbelig, aber sein Schweigen, in Kombination mit diesem Blick, ließ mich ein Stoßgebet zum Himmel senden, er möge sich am ersten Wort seiner Antwort verschlucken und tot umfallen. Ich jedenfalls wollte nicht hören, was zu sagen er im Begriff stand. Auf das, was kam, war ich allerdings am wenigsten vorbereitet.

„Guten Tag.“ Er nickte mir kühl zu und stapfte mit den Golfschlägern auf der Schulter seines Armanihemdes an mir vorbei. Sie landeten auf dem Rücksitz eines silbernen Cabriolets, ein satter Motor brummte auf, und während ich noch verblüfft und mit offenem Mund dastand, kam er auf mich zugebraust und bremste abrupt. „Auf diese plumpe Masche fällt bei uns hier oben niemand rein. Ich dachte, ich hätte das heute Morgen schon dem ganzen Rudel dieser Hyänen klargemacht, die mir mit ihren Kameras und Mikrofonen vorm Gesicht rumfuchtelten. Kein Tratsch, keine Interviews, keine Stellungnahmen. Von mir und meinen Nachbarn erfährt niemand auch nur ein einziges Wort und sollte mein Name in irgendeinem Zusammenhang mit dieser Geschichte in irgendeinem Schmierenblatt erscheinen, verklage ich Sie. Ist das klar?“ Er wandte sich erst ab und mir dann doch noch einmal zu, während er den Motor wie ein Pubertierender mehrmals aufheulen ließ. „Ach ja, falls Sie vom Hamelner Kurier sind, wovon ich beinahe ausgehe, weil Sie das Drama ganz offenbar verschlafen haben, richten Sie Ihrem Chefredakteur netterweise aus, er kann sich unser Golfspiel am Samstag in dieselbe Örtlichkeit schieben wie meine Einladung zum Barbecue nächste Woche.“ Dann brauste er endgültig davon, und ich hätte dringend eines Thanatopraktikers mit Nadel und Faden bedurft, meinen Mund wieder zuzukriegen. Während ich mich umblickte, unsicher, ob ich einen neuen Versuch wagen sollte, floh eine kleine, drahtige Frau, die mit einer Heckenschere bewaffnet die Rosen in ihrem Vorgarten anvisierte, eiligst ins Haus zurück. Also ließ ich es. Irgendjemand, so schien mir, verwechselte mich mit einer aufdringlichen Reporterin. Nur warum?

Das warum eröffnete sich mir an der Ecke zum Gamsstieg. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders brauste an mir vorbei, und die Straße war mit Zigarettenkippen und zerdrückten Coladosen übersät, offenbar die Hinterlassenschaften einer dieser schnellebigen Medienmeetings, die immer dort abgehalten werden, wo Dramen den Alltag sprengen. Ein vergessenes Kabel schlängelte sich den Rinnstein entlang. Gelbe Bänder mit der Aufschrift Achtung - Polizeiliche Ermittlungen sperrten Grundstück und Haus von F.C. ab. Ich blieb mit wackligen Knien am Tor stehen und starrte über das Unkraut, das nun an mehreren Stellen plattgetrampelt war, zum Haus hinüber. Es wirkte plötzlich, als wäre es nach hundert Jahren aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Die Jalousien waren hochgezogen, und die Fenster blinzelten freundlich in die Sonne. Friedlich und einladend sah die Villa aus, und doch musste hinter ihren Mauern Entsetzliches geschehen sein.

F.C.‘s Prophezeiung ihres baldigen Endes fiel mir ein. Hatte sie Selbstmord begangen? Vielleicht war sie krebskrank gewesen, mit so unerträglichen Schmerzen, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Tabletten zu schlucken oder ein Rasiermesser an den Handgelenken anzusetzen. Doch warum dann das Medienaufgebot? Während mir die Sonne auf den Scheitel knallte, fühlte ich Trauer und Wut in mir aufsteigen. Ich sah sie klein und verloren in ihrem viel zu großen Rollstuhl und wütete gegen mich selbst, dass ich nicht mehr als einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, Anteil an ihrem Schicksal zu zeigen. Andererseits hatte ich es immerhin versucht, und war auf Granit gestoßen. Trotzdem war mein ganzes Trachten nur auf eins ausgerichtet gewesen: her mit Scheck und Hund und dann nichts wie weg. Arme F.C.! Armer Bruno!

Arme Delia! Den Hund war ich schneller wieder los als gedacht. Aus der Traum vom bequemen Reichtum. Tausend Euro, und das war’s dann auch schon. In den nächsten Tagen würde sich der Erbe bei mir melden und den Hund abholen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und von Zweifeln und Selbstvorwürfen geplagt, trabte ich zur Wangelister Straße zurück und wartete auf einen Bus.

Zuhause schob ich mir eine tiefgefrorene Lasagne in den Backofen und schaltete den Fernseher ein. N3, das Programm für Niedersachsen, und es dauerte nicht einmal eine Dreiviertelstunde, da flatterte auf dem Bildschirm vor F.C.‘s Villa das Absperrband im gestrigen Abendwind. Das Haus war hellerleuchtet, und Spurensicherer in weißen Schutzanzügen wuselten im Garten herum. In einer Einblendung wurden zwei Särge in einen Leichenwagen ohne Aufschrift geschoben. Die Reporterin kam mit einem Mikro ins Bild, das nicht weniger flauschig aussah als Churchill in meiner Ecke: „In dieser Villa im niedersächsischen Hameln ereignete sich ein schreckliches Drama. Ein Anwohner, der den ganzen Abend über Licht im Keller des Hauses Gamsstieg 3 sah, versuchte über längere Zeit hinweg vergeblich, seine Nachbarn telefonisch zu erreichen. Als er gegen Mitternacht hinüberging, um nach dem Rechten zu sehen, war die Haustür zwar zu, jedoch nicht abgeschlossen. Aufs Äußerste beunruhigt betrat er das Haus. Im Flur entdeckte er die Leiche eines zweiundachtzigjährigen Mannes, der als Bruno Cassebohm identifiziert wurde und im Wohnzimmer eine tote Fünfundachtzigjährige in einem Rollstuhl. Beiden war aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden. Die Frau werden die älteren Zuhörer unter ihnen vielleicht noch aus den Tagen ihrer Filmkarriere in Erinnerung haben. Es handelt sich bei der Ermordeten um Friederike Kamm, die während der NS-Zeit unter dem Namen Fausta Karmatin ein UFA-Star war und in vielen Spielfilmen die Hauptrolle spielte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verschwand sie vorübergehend in der Versenkung und tauchte erst 1952 in dem MGM-Spielfilm Verlorene Tage in Hollywood wieder auf, wo sie sich Fiona McCullen nannte und eine zweite vielversprechende Karriere begann. Doch auch diese Karriere endete abrupt. Am Abend des 18. Juli 1959 stürmte Fiona McCullen auf eine Party des berühmten Schauspielers Gregory Peck und erschoss unter den Augen von zweihundert hochkarätigen Gästen ihren Gatten, den amerikanischen Produzenten Roger Nelson, durch fünf Schüsse in die Brust. Nach ihrer Tat floh sie, stellte sich jedoch auf Anraten ihrer Anwälte zwei Wochen später freiwillig der Polizei. Vor Gericht gab sie zu, ihren Gatten erschossen zu haben, weil er wenige Stunden zuvor den gemeinsamen Hund durch Rattengift getötet hatte ...“

Der Rest war mehr oder minder beitragfüllendes Geplänkel, aber viel mehr hätte ich auch nicht verkraften können. Ich starrte das Foto auf dem Bildschirm an, ein PR-Bild aus den Vierzigern, und konnte es kaum fassen. Eine berühmte Filmdiva. Ich erinnerte mich vage, Verlorene Tage gesehen zu haben, eine melodramatische Schnulze aus den Südstaaten, wenn mich nicht alles täuschte, aber der Name Fiona McCullen sagte mir nichts.

Das Ausmaß der Tragödie wurde mir erst klar, als mein Blick auf den Polski Owczarek Nizinny fiel. Ob sein Frauchen nun Filmdiva oder Toilettenfrau gewesen war, spielte keine Rolle, wohingegen ich mir über die Tatsache, dass man sie aus nächster Nähe geradezu hingerichtet hatte, ein paar Gedanken machen sollte. Wer schoss einer kleinen, alten Frau in einem viel zu großen Rollstuhl und ihrem achtzigjährigen Butler einfach so eine Kugel in den Kopf? Antwort: ein in die Enge getriebener Einbrecher, versehentlich auf frischer Tat ertappt. Doch von Einbrecher und Diebstahl war im Fernsehbericht keine Rede gewesen. Mögliche Alternativen: ein Perverser mit Lust am Töten oder jemand, der gekommen war, etwas zu holen, was es im Haus nicht mehr gab, woraufhin er in Wut geriet. Zum Beispiel einen ausgestopften Hund. Churchill. In diesem Fall würde es einen Sinn ergeben, dass Fiona McCullen ihn auf so merkwürdige Art von mir außer Haus schaffen ließ. Und in diesem Fall liefen ihre kryptischen Anspielungen bezüglich der Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit ihrem Tod schenken würde, auf das Wissen um ihre mögliche Ermordung hinaus. Selbst Brunos letzte Worte ergaben plötzlich einen Sinn. Erzählen Sie niemandem von dem Hund. Trauen Sie keinem .

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