Charlie Meyer - Leben - Erben - Sterben

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Delia A. Pusch trauert mit Andacht ihrem alten Leben hinterher. Ihr Lebensgefährte hat sie wegen einer anderen verlassen, ihr Sohn ist von zu Hause ausgerissen, und ihre neue Fallmanagerin im Jobcenter stellt sich als eine verhasste Klassenkameradin aus der Schulzeit heraus.
Um ihre Haushaltskasse aufzubessern, setzt Delia eine Anzeige in die Zeitung: Nehme Aufträge aller Art an und gerät in einen mörderischen Strudel, der sie weit über ihre Grenzen bringt.
Zur gleichen Zeit zwingt das Jobcenter Delia, einen 400-Euro-Job bei einem Bestatter anzunehmen, der seiner Arbeit mit verblüffender Kreativität nachgeht.
Für Delia beginnt ein mörderischer Balanceakt zwischen ihrem Job, einer nimmermüden Fallmanagerin im Jobcenter, der Jagd nach dem abtrünnigen Sohn, einer neuen Beziehung und dem verzweifelten Bemühen, einem Mörder nicht in die Quere zu kommen.

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Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Schmirgelpapier und Pinsel. Gegen Abend leuchteten mein Fahrrad, der Kellerboden und ich selbst kornblumenblau, doch ich betrachtete mein Werk mit der Zufriedenheit eines erfolgreichen Künstlers. Bis mir die Nachbarn wieder einfielen. Würden sie nicht stutzen, wenn ich anstatt eines verrosteten grünen urplötzlich ein frisch lackiertes blaues Fahrrad fuhr? Ich musste mir etwas einfallen lassen. Vorerst jedoch schlich ich in meine Wohnung zurück, während das ganze Haus verdächtig nach Lack stank und badete in Pinselreiniger. T-Shirt und Jeans waren reif für den Müll. Die Socken ebenfalls. Wenn ich mich künstlerisch betätige, dann unter vollem Körpereinsatz. Nachdem ich mir die kornblumenblauen Haarspitzen abgeschnitten hatte, suchte ich nach dem Haarfärbemittel und wurde - wieso auch immer - im Sicherungskasten fündig. Mir blieb keine Zeit, auf eine Besserung meines Selbstbewusstseins zu warten. Ich musste handeln, und zwar sofort!

Das Ergebnis war kupferrot, genauso wie ich es in der Werbung an den Models ständig bewunderte, nur sah es bei mir natürlich verboten aus. Den Tränen nahe, probierte ich alles durch, was mein Schminkköfferchen an Auswahl bot. Bräunungscreme, Rouge, Lidschatten, Eyeliner und etliches mehr. Gegen neun Uhr abends blickte mir ein zähnefletschender Vamp aus dem Spiegel entgegen, und ich rettete mich mit einem Glas Beaujolais vor den Fernseher.

Das Programm war umgestellt worden. Zu Ehren der verstorbenen Diva Fiona McCullen hatte Pro 7 seine Filmkiste durchwühlt und ganz ganz unten den MGM-Film Verlorene Tage gefunden. Sie spielte großartig, und an mehr als einer Stelle dachte ich an die erschossene kleine Frau im großen Rollstuhl und heulte eine Runde. Der Film war 1954 gedreht worden, und wenn sie nicht ein Jahr später ihren Mann umgebracht hätte, wäre vielleicht eine wirklich große Schauspielerin aus ihr geworden, deren Name, wie der von Katherine oder Audrey Hepburn, noch heute durch das Gedächtnis der Leute geisterte.

Im Anschluss an den Film brachte Pro 7 ein Revival mit alten Dokumentaraufnahmen, Ausschnitten aus ihren Filmen zur NS-Zeit und einer Szene, in der sie, brünett und mager, 1939 bei einem Essen in kleinem Kreis mit Hitler Brüderschaft trank und Küsschen rechts und links auf die Wangen austauschte. Sie konnte nicht älter als neunzehn oder zwanzig gewesen sein, blutjung also, trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass ich ab dieser Szene ein klein wenig auf Distanz ging. Am anderen Ende der Tafel, gleich neben Goebbels, hob F.C.‘s erster Ehemann, der Regisseur Leopold Kamm, sein Glas und prostete den beiden über den Tisch hinweg zu. Die Filmaufnahmen aus ihrer deutschen Karriere endeten im Jahr 1944. Alle folgenden Sequenzen begannen elf Jahre später jenseits des Atlantiks in den USA. Aus der eher mageren Brünetten von einst war eine vollschlanke, von Hollywoodgrößen umschwärmte Blondine geworden, die ihren Ruhm jedoch nur ein kurzes Jahr lang genießen durfte. Die abschließenden Szenen des Revivals zeigten sie erst, von Anwälten geradezu eingemauert, auf dem Weg in den Gerichtssaal und schließlich, wie sie hinter den Mauern von Leavenworth verschwand, um ihre lebenslange Freiheitsstrafe anzutreten. In der allerletzten Szene hastete Fiona McCullen, eine Decke über dem Kopf, nach zwanzigjähriger Haft endlich begnadigt und von ihrem Anwalt geführt, zu einer vor dem Gefängnis parkenden Limousine.

Der Kommentator schloss mit den Worten, dass sich dann „ihre Spur verlor“ und fuhr fort: „Der Mord an Fiona McCullen und ihrem dritten Ehemann Bruno Cassebohm erschüttert ganz Hameln. Wie erst jetzt bekannt wurde, folterte der Mörder Bruno Cassebohm, bevor er ihn erschoss. Polizeiberichten nach fanden sich auf seinen Armen Brandwunden, die höchstwahrscheinlich von einer Zigarette stammen.“

Der Bericht ging noch einen Moment weiter, aber ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen und schaltete ab. Er war gefoltert worden? Ich kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Wie konnte jemand einen kleinen alten Mann foltern, der sich ohnehin nicht mehr zu wehren vermochte? In einer betulichen Stadt wie Hameln? Unglaublich.

Wieder kamen mir die Tränen. Eine Weile lief ich schnüffelnd durch die Wohnung und dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Bruno als Butler eingestuft hatte. Dabei war er ihr Mann gewesen. Ihr dritter Ehemann! Nr. 1, der Naziregisseur mit seinen Connections zur oberen Führungsriege, verschwand dem Bericht nach mit Kriegsende spurlos und tauchte im Gegensatz zu seiner Frau nie wieder auf. Die Meinungen, wo er abgeblieben war, teilten sich. Die einen behaupteten, von den Alliierten standrechtlich erschossen, die anderen wähnten ihn untergetaucht in Südamerika. Von offizieller Seite wurde er für tot erklärt, womit F.C. plötzlich zur Witwe wurde. Wo sie sich - jetzt wusste ich endlich, dass die Initialen für Friederike Cassebohm standen - bis 1954 aufhielt, war ebenfalls unbekannt. Auf jeden Fall heiratete sie in diesem Jahr unter falschem Namen und in einem fremden Land Ehemann Nr. 2, einen amerikanischen Produzenten, den sie ein knappes Jahr später erschoss, nachdem er ihren Hund vergiftet hatte. Danach saß sie zwanzig Jahre im Zuchthaus von Leavenworth ab, wurde begnadigt und kehrte auf verschlungenen Wegen nach Deutschland zurück, wo sie Bruno Cassebohm ehelichte und ...

Der Hund! Mein Kopf fuhr herum. Natürlich, wieso war mir das nicht schon früher eingefallen? Churchill war der vergiftete Hund! Seinetwegen hatte F.C. ihren Mann erschossen und zwei Jahrzehnte hinter schwedischen Gardinen verbracht. Ich starrte ihn an, aber er sah nicht dämonischer aus als zuvor, obgleich er, wenn mich meine böse Ahnung nicht trog, nicht weniger als drei Menschen auf dem Gewissen hatte. Herrchen, Frauchen und Frauchens dritten Ehemann. Sein viertes Opfer starrte ihn wahrscheinlich gerade sorgenvoll an. Ich konnte nur hoffen, dass es sich bei dem Mörder um einen ganz gewöhnlichen Einbrecher mit Spaß am Foltern alter Männer gehandelt hatte, aber das schien mir nicht sehr wahrscheinlich. Durch meine Wenigkeit schafft Fiona den Hund außer Haus. Unmittelbar darauf wird sie umgebracht. Und bevor man Bruno ebenfalls tötet, foltert man ihn. Warum foltert man einen Menschen? Um ihm eine Information abzupressen. Zum Beispiel die, wo ein gewisser ausgestopfter Hund abgeblieben ist.

Meine Nackenhaare stellten sich auf, und in der Hitze des Sommertages, in meiner aufgeheizten Dachgeschosswohnung, wurde mir eiskalt. Entweder ich beging finanziellen Selbstmord, indem ich mich vertrauensvoll an die Polizei wandte oder ich riskierte, eines Morgens mit durchschnittener Kehle aufzuwachen. Es bestand natürlich die vage Möglichkeit, dass Fiona oder Bruno trotz Folterung den Mund gehalten hatte, doch die Wahrscheinlichkeit lag meines Erachtens nach bei null. Mit einem wahren Panthersatz war ich an der Wohnungstür und würgte den Schlüssel herum, bis er abzubrechen drohte.

Natürlich konnte ich mich des Hundes ganz einfach entledigen, indem ich ihn, gut verpackt, in den Müllcontainer warf. Diese Lösung bot den Vorteil, dass die Polizei im Fall einer Wohnungsdurchsuchung bei mir nicht fündig wurde. Andererseits suchte sie ihn gar nicht, weil ihr seine bloße Existenz unbekannt war. Sonst hätte es sicher in der Zeitung gestanden. Sie fahndeten nach goldenen Kerzenständern, oder was immer Einbrecher in ihren Säcken abtransportierten. Den Hund suchte der Mörder, und wenn der ihn bei mir nicht auf Anhieb fand, würde er sich eine Zigarette anzünden und ... Nein, Churchill im Müll zu entsorgen, war doch keine so gute Lösung, erst einmal musste es der Kleiderschrank tun. Dafür zerriss ich schweren Herzens den Scheck und verbrannte jeden Schnipsel einzeln im Aschenbecher. Einlösen konnte ich ihn sowieso nicht. Obgleich mein Name nicht auftauchte, sondern nur An Überbringer auf dem Papier stand, würde sich der Schalterbeamte meinen Personalausweis zeigen lassen und die ID-Nummer notieren.

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