1 ...8 9 10 12 13 14 ...29 Ingeborg Schulze wurde dienstlich. Die nächste halbe Stunde, während die anderen drei die Köpfe einzogen, um nicht versehentlich von der Schärfe ihrer Stimme enthauptet zu werden, unterzog sie mich einem Verhör der dritten Art.
„Wo hast du dich in den letzten sechs Wochen beworben?“ Ich ratterte guten Gewissens die Liste meiner Bewerbungen herunter. „Ist das alles? Warum nicht als Spendensammlerin fürs Rote Kreuz?“ „... als Putzfrau?“ „... als Müllsortiererin?“ „... Erntehelferin?“ „... Klinkenputzen?“
Uwes Kopf verschmolz beinahe mit seinem Bildschirm, während Ingeborgs Fragen wie Maschinengewehrfeuer gegen meine Trommelfelle ratterten. Zeit zum Antworten gab sie mir nur bis zum ersten halben Satz, dann schoss sie, ganz die in Verhören versierte Kripobeamtin, die nächste Frage mitten in die Erklärungen. Mit ihren Kripokollegen hatte sie verstockten Straftätern gegenüber bestimmt gern guter Bulle/böser Bulle gespielt, und es bedurfte wenig Menschenkenntnis, ihre Lieblingsrolle zu bestimmen. Meine Fassung begann zu bröckeln, und ab irgendeiner Frage aktivierte ich meinen schalldichten Schutzschirm und starrte auf ihre Kinnlade, die, wie das Kinn einer Bauchrednerpuppe, hoch und runter klappte, hoch und runter und immer wieder hoch und runter. Ich fragte mich, wie viele Zähne ich ihr ausschlagen musste, damit sie endlich Ruhe gab und mich zu den anderen Leichen in ihren Aktenschrank kehrte.
Die Angestellte am Fenster, eine junge Hübsche, begann Uwe böse Blicke zuzuwerfen. Sie schien ihm seine vornehme Zurückhaltung übel zu nehmen. Immerhin wurde da gerade die Mutter seines Sohnes weggeputzt. Der männliche Sachbearbeiter zählte wie Uwe die Pixel auf seinem Monitor und bewegte nur stumm die Lippen, als betete er für meine oder seine Erlösung. Ich konzentrierte mich darauf, Uwes Hinterkopf zu fixieren. Irgendetwas passte nicht ins vertraute Bild. Etwas war anders an ihm.
Schließlich drang Ingeborgs Stimme noch einmal zu mir durch.
„Hast du eigentlich schon die Eingliederungsvereinbarung unterschrieben? Nein? Na sowas. Aber guck mal, rein zufällig habe ich schon eine vorbereitet. Hier, siehst du, da steht dein Name drauf, und dass du dich verpflichtest, bis zum nächsten Termin den Nachweis über dreißig Bewerbungen zu erbringen. Ich will zehn Bewerbungen auf Stellen, die die Arbeitsagentur im Internet veröffentlicht hat und den Rest als bunte Mischung aus Zeitarbeitsstellen, Minijobs und natürlich sozialversicherungspflichtigen Arbeitsangeboten. Unterschreib! Da! In deinen nächsten Bewerbungen möchte ich lesen, dass du den potenziellen Chefs anbietest, zwei Wochen unentgeltlich für sie zu arbeiten. Damit sie dich ausprobieren können, ohne die Katze im Sack zu kaufen. - Und solltest du in den kommenden vier Wochen nicht fündig werden, fährst du ganz einfach nach München. Dort gibt es einen Professor an der Uni, der 99,9 Prozent der Arbeitslosen, die wir ihm schicken, vermittelt. Für arme Hartz IV-Würstchen wie dich macht er das sogar umsonst, was keinesfalls üblich ist. Dafür sitzen du und der Prof ganz gemütlich hinter einer Glasscheibe, und vor der Glasscheibe sitzen all die kleinen Studenten und Studentinnen, die noch viel, viel lernen wollen, bevor sie sich in ein paar Jahren ebenfalls ins Heer der Arbeitslosen einreihen dürfen. Aber keine Bange, auf deiner Seite der Scheibe hörst du ihr Gegnicker gar nicht, großes Ehrenwort. - War noch was? Ach ja, ein paar Zuweisungen habe ich auch noch für dich.“
Dann ratterte ein Drucker, und ich stand wieder vor der Tür, mit mehreren Bögen Papier in der Hand und Ingeborg Schulzes Abschiedsworten in meinen Ohren. „Nächste Woche ziehen wir um. Gegenüber auf die andere Straßenseite in die ehemaligen Räume irgendeiner Akademie. Weißt du, was das Schöne daran ist? Ich bekomme mein eigenes Büro mit meinem eigenen Armesünderstühlchen. Und dann, das ist ein Versprechen von der großen Ingeborg an die kleine Pusch, werde ich viel öfter für dich Zeit haben. Wie wär’s mit alle drei bis vier Wochen?“
Kurz vor der Kernfusion hatte ich das getan, was ich immer tat, wenn ich gegen eine Person nicht ankam. Ich rächte mich an einer anderen. In diesem Fall an Uwe. Und ja, ich schämte mich dafür, ihn für meinen Hass auf Ingeborg missbraucht zu haben. Andererseits waren mir die Worte ziemlich spontan über die Lippen gekommen, und ich hatte zu dringend ein Ventil gebraucht, um auch nur den Versuch zu unternehmen, meiner vorlauten Zunge Einhalt zu gebieten. „Himmel, jetzt weiß ich, was mit dir nicht stimmt. Du hast dir die Segelohren operieren lassen. All die Jahre habe ich gepredigt Tu es , aber nein, du Feigling hast dich ja nie getraut. Darf ich davon ausgehen, dass du wieder eine neue Freundin hast?“
Sein hasserfüllter Blick würde mich so manche Nacht qualvoll stöhnen lassen, vor allem, weil ich schamlos gelogen hatte. Seine Segelohren waren nie ein Thema zwischen uns gewesen, ich hätte ihn auch ohne Ohren geliebt.
Ich starrte auf die Zuweisungen in meiner Hand. Im ersten Fall suchte ein Thanatopraktiker eine 400-Euro-Kraft zum täglichen Einsatz, im zweiten der Friedhof Wehl eine ungelernte Hilfskraft, ebenfalls auf geringfügiger Basis, aber nur für zwei Nachmittage die Woche.
Ich rettete mich nach Hause zu meinem treuen Hund.
Ich beeilte mich den Friedhof anzurufen. Ingeborg würde mich in Zukunft mit Zuweisungen überschütten, bis ich darunter erstickte, also bot sich schnelles Handeln an. Zwei Nachmittage die Woche Grabpflege konnte ich aushalten, das Geld würde ich behalten dürfen, und meine neue Fallmanagerin gab hoffentlich Ruhe. Nach dem Willen von Herrn Hartz waren die ersten hundert Euro Zuverdienst frei und von dem Rest noch einmal zwanzig Prozent. Was übrig blieb, wurde mit der Stütze verrechnet, doch bei nur zwei Nachmittagen pro Woche würde ich den Freibetrag nicht einmal vollständig ausschöpfen können.
Pech gehabt! Der Mensch denkt, doch das Jobcenter lenkt. Der Friedhof wollte mich nicht mehr, die Konkurrenz war fixer gewesen. Zwei Ein-Euro-Kandiaten - jung, kräftig, männlich - von ihrem Fallmanager persönlich bis vor die Tür gebracht, der Verwalter überschlug sich vor Begeisterung. Sie durchliefen gerade die übliche Schnellausbildung zum Minibaggerfahrer, und am Nachmittag dürften sie schon die ersten Gräber ausheben. Und nein, zum Unkrautzupfen bringe ihm nämlicher Fallmanager noch eine weibliche Eineurokraft vorbei. Ich gratulierte, und Churchill in seiner Ecke streckte ihm für mich die Zunge raus. Einer Eingebung folgend fragte ich nach dem Namen des Arbeitsvermittlers. Brickenrodt. Uwe Brickenrodt! Dann hängte der Verwalter ein.
Ich starrte den tutenden Hörer an und schluckte. Großer Gott! Eikos Vater rächte sich für die Segelohren, und so schnell, wie er handelte, musste seine Wut gewaltig sein. Er wusste genau, wie sehr es mich ärgern würde, einen Job anzunehmen, bei dem der größte Teil meines Einkommens mit meinem Arbeitslosengeld II verrechnet wurde. Daher verbaute er mir die akzeptablere der beiden Stellen. Er wollte, dass ich mich jeden Tag auf meinem Weg zu diesem Thanatopraktiker an ihn erinnerte und meine unbedachten Worte bereute. Er wollte mich quälen, doch war das schon seine ganze Rache? Ich kannte Uwe, in diesem Zustand verhielt er sich nachtragender als es einer Ingeborg Schulze auch nur im Traum einfiele. Eine Weile tigerte ich auf der Suche nach dem Fremdwörterlexikon - was zum Teufel war ein Thanatopraktiker? - durch die Wohnung, dann fiel mir ein, dass Uwe es bei seinem Auszug mitgenommen hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, ins Internet zu gehen, doch über einer plötzlichen Eingebung vergaß ich es wieder.
„Ha!“
Auf der Zuweisung stand, ich hätte mich umgehend mit den potenziellen Arbeitgebern in Verbindung zu setzen, und Uwe neigte dazu, Worte wörtlich zu nehmen. Wenngleich nicht er, sondern Ingeborg mich und meine Akte verwaltete, traute ich den beiden ohne Weiteres ein Bündnis zur gegenseitigen Befriedigung ihrer Rachsucht zu. Umgehend konnte durchaus als sofort interpretiert werden, und ein nicht ganz so umgehendes Verhalten finanzielle, zumindest aber demütigende Konsequenzen nach sich ziehen. Uwe rechnete damit, dass ich diese zweite, für mich nicht akzeptable Stelle, ein paar Tage in ihrem eigenen Saft garen ließ, in der Hoffnung, der Kelch ginge noch einmal an mir vorüber. Uwes Einschätzung war durchaus berechtigt. Ich wollte einen Job, klar doch, aber einen, der es mir entweder erlaubte, mich mit Stumpf und Stiel vom Jobcenter abzunabeln oder aber einen Job, bei dem ich für ein Minimum an Stunden ein Maximum an Geld bekam, das ich auch behalten durfte. Was ich keineswegs wollte, war eine Arbeit, zu der ich jeden Tag antanzen sollte, die mich durch ihre „Geringfügigkeit“ jedoch am Tropf der staatlichen Infusion hängen ließ, und bei der darüberhinaus ein großer Bestandteil meines Lohns am Hartz’schen Daumen klebenblieb und einkassiert wurde.
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