Charlie Meyer - Leben - Erben - Sterben

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Delia A. Pusch trauert mit Andacht ihrem alten Leben hinterher. Ihr Lebensgefährte hat sie wegen einer anderen verlassen, ihr Sohn ist von zu Hause ausgerissen, und ihre neue Fallmanagerin im Jobcenter stellt sich als eine verhasste Klassenkameradin aus der Schulzeit heraus.
Um ihre Haushaltskasse aufzubessern, setzt Delia eine Anzeige in die Zeitung: Nehme Aufträge aller Art an und gerät in einen mörderischen Strudel, der sie weit über ihre Grenzen bringt.
Zur gleichen Zeit zwingt das Jobcenter Delia, einen 400-Euro-Job bei einem Bestatter anzunehmen, der seiner Arbeit mit verblüffender Kreativität nachgeht.
Für Delia beginnt ein mörderischer Balanceakt zwischen ihrem Job, einer nimmermüden Fallmanagerin im Jobcenter, der Jagd nach dem abtrünnigen Sohn, einer neuen Beziehung und dem verzweifelten Bemühen, einem Mörder nicht in die Quere zu kommen.

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„Durchschaut! Dieser Punkt geht an die Kandidatin mit dem Hund“, murmelte ich, stellte mir das Telefon auf den Schoß und rief die Festnetznummer auf der Zuweisung an. Ich bekam einen Herrn Kuhn an den Apparat, der sich so fröhlich anhörte, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Wir redeten eine Weile um den heißen Brei herum, dann fragte ich ihn nach dem potenziellen Aufgabengebiet, und er deutete ein wenig vage an, es ginge um die Versorgung von Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen könnten. Das war okay. Saubermachen, einkaufen, Essen kochen, dachte ich, nichts, was ich mir nicht zutraute.

Wir einigten uns auf ein Vorstellungsgespräch am selben Tag. Fünf Uhr.

Ich verbrachte die Zeit bis zum Aufbruch mit Grübeln, rücklings aufs Sofa gefläzt, und blickte durch das schräge Dachfenster den Wolken hinterher. Nichts Neues an sich, aber diesmal quälte mich der tägliche Zuwachs auf meiner Abschussliste missliebiger Mitbürger. Jetzt auch noch Uwe? Ich liebte ihn doch. Trotz allem. Oder nicht? Warum er mich nicht mehr liebte, war mir klar. Ich war zu dick und zu hässlich und absolut unfähig, meinen vorlauten Schnabel zu halten. Dafür konnte er doch nichts. Oder doch? Ich fragte Churchill, aber er hielt sich da raus, und ich dachte, dass sicherste Zeichen für den Anfang vom Ende war, einen ausgestopften Hund um Rat zu fragen. Am Abend zuvor war ich sogar in Versuchung geraten, ihm das Fell zu bürsten, aber meine Nüchternheit und der Gedanke, unter dem Fell auf Haut zu stoßen, die schon seit einem halben Jahrhundert tot war, hielten mich ab. Außerdem mochte ich keine Hunde.

Mich für Vorstellungsgespräche in eine frauliche Schale zu werfen, hatte ich schon vor längerer Zeit aufgegeben. Röcke trug ich seit Jahren nicht mehr, Stöckelschuhe schon gar nicht, und von Nylonstrumpfhosen bekam ich juckenden Ausschlag. Also zog ich die weiße Hose an, eine dezent geblümte Bluse, die durch ihre Weite perfekt meinen Bauch kaschierte, und nahm mir vor, meine Haare so bald wie möglich in einer Farbe zu färben, die etwas hermachte. Pink oder grün, dieses fahle Blond passte nicht zu meinem Mundwerk. Die vage Erinnerung an eine Intensivtönung, die ich bei Drospa in der Hand gehalten und meines Wissens auch bezahlt und nach Hause getragen hatte, schwebte wie eine Feder durch mein Gedächtnis. Ein Rotton, wenn mich nicht alles täuschte. Irgendwann, in ein paar Jahren vielleicht, wenn mein Selbstbewusstsein wieder auf eigenen Beinen stand, würde ich bestimmt wagen, ihn auszuprobieren.

In Sandalen stiefelte ich los. Nicht besonders eilig, aber ich brach zumindest auf. Beim letzten Vorstellungsgespräch - Toilettenfrau beim Schützenfest - waren mir erst ein Glas Wein und dann noch einige danach in die Quere gekommen, und ich hatte am nächsten Morgen meine liebe Mühe gehabt, Frau Rodenbergs aufgewühlte Wogen zu glätten. Ich ging den Fußweg unter der Thiewallbrücke entlang, schlenderte lustlos die Weserpromenade hinunter und starrte von der Münsterbrücke eine Weile aufs schäumende Wehr. Hören konnte ich es nicht, hinter mir donnerten die LKWs der Mautflüchtlinge von einer Weserseite zur anderen und strebten den Bundesstraßen jenseits der Stadtgrenzen zu. Trotzdem war es irgendwie romantisch. Wasser hatte schon immer eine verheerende Wirkung auf mich, und rauschendes Wasser - mit Ausnahme der Toilettenspülung - haute mich jedesmal von Neuem um.

In der Großehofstraße stand in silbernen Schnörkelbuchstaben auf der schwarz gefärbten Schaufensterscheibe eines Fachwerkhauses und, in kleineren Lettern, auf einer schwarz eingefärbten Glastür gleich nebenan: Kuhns Thanatopraxis , darunter Modern Embalming & Creative Restoration . Was immer das übersetzt heißen mochte. Das Geschäft sah aus wie ein Zwischending zwischen Spielsalon und Tattooladen, und das Geheimnisvolle seines verborgenen Innenlebens weckte meine Neugier. Ich stieß die Tür auf. Eine übelriechende Wolke stickiger Luft ließ mich um Atem ringen. Wer immer hier was betrieb, war kein Freund des Lüftens. Ich blickte mich keuchend um und war enttäuscht. Die Enttarnung des Mysteriums hinter schwarzem Glas förderte nichts anderes als ein karges Büro zutage. Mit einem ratzekahl leeren Schreibtisch und einem leeren Wandregal über einem Sideboard hinter dem Schreibtisch. In der gegenüberliegenden Ecke, neben der Tür standen zwei kissenlose Holzstühle und ein ockerfarbener Nierentisch, auf dem es außer Kratzern auch nichts zu sehen gab. Ansonsten war das Büro leer.

Doch nicht lange. Kaum bimmelte das Glöckchen über der Tür, stürzte ein Mann aus dem Hinterzimmer. Er war dürr wie ein Skelett, und seine eingefallenen Wangen erinnerten mich an den personifizierten Tod auf irgendeiner Lithographie, die mir mal in die Finger geraten war. Das Skelett, in einen knielangen, blauen und ziemlich bekleckerten Kittel gehüllt, lachte mir so breit entgegen, dass ich es ad hoc ins Herz schloss. Endlich ein fröhlicher Mensch, der mir mit prächtigem Gebiss und purem Optimismus entgegenkam und mich nicht wie etwas musterte, das die Katze ins Haus geschleppt hatte. Er war mittelgroß, hatte ein verkrümmtes Rückgrat, schlohweiße Haare, die ihm einsteinmäßig wirr vom Kopf standen, und stank nach Desinfektionsmitteln. Vermutlich mischte er die Reinigungsmittel selbst, die er seinen Angestellten mit auf den Weg gab, die Wohnungen der Kundschaft zu putzen.

Wir hielten uns nicht bei den Präliminarien auf. Ehe ich mich versah, stand ich im Hinterzimmer neben einem Stahltisch, auf dem eine bis zum Hals zugedeckte, menschengroße Puppe lag - die ziemlich makabre Nachbildung eines alten, grauhäutigen und ziemlich faltigen Mannes, dem irgendein Witzbold ein Tuch ums Kinn gebunden hatte, das auf dem Kopf in einer großen Schleife endete. Offensichtlich sollte es mir symbolisieren, dass die arme Puppe unter Zahnschmerzen litt. Ein Arm, auf dem mit dicken Pflastern zwei Schläuche befestigt waren, ragte unter dem Laken hervor. Einer dieser Schläuche endete in einem Plastikeimer unter dem Tisch, dessen Boden von einer rot verklumpten Masse bedeckt war, der andere hing an einem Gerät, das mich vage an eine Druckpumpe erinnerte. An ihr hing ein Kanister, in dem eine hellrote Flüssigkeit schwappte. So wie’s aussah, bekam ich noch eine Lektion in Erster Hilfe, bevor ich auf die alten Leutchen losgelassen wurde. Hoffentlich musste ich keine Mund-zu-Mund-Beatmung üben. Ich sollte wohl besser meine unzureichenden Qualifikationen betonen.

„Ich bin keine Krankenschwester“, stellte ich resolut fest. „Ich kann nicht spritzen, keinen Katheter legen und schon gar nicht intubieren oder so etwas. Ich glaub auch kaum, dass mir das Gesetz ohne entsprechendes Fachstudium medizinische Eingriffe gleich welcher Art erlaubt.“ An Nachmittagen, wenn die Depressionen bei mir anklopften, griff ich für gewöhnlich zur Fernbedienung und fütterte meine Nerven mit der x-ten Wiederholung von Emergency Room . Weiteres Fachwissen besaß ich nicht.

„Keine Sorge, das brauchen Sie alles nicht. Die Zugänge lege ich selbst. Alles, was Sie zu tun haben, ist, den Schalter an der Pumpe zu betätigen und aufzupassen, dass nichts daneben geht. Die rosa Flüssigkeit im Kanister ist eine Mischung aus Schafsfett, Färbemitteln, Formaldehyd, Wasser und dem Duftstoff des Sandelholzes mit einer Prise Nelke und noch dem einen oder anderen, was ich an dieser Stelle nicht sagen möchte. Mein Spezialgebräu. Ich nenne es Embalming Flower . Sobald unser Vorrat zur Neige geht, fällt es in Ihren Aufgabenbereich, die einzelnen Ingredienzien nachzubestellen. Allerdings nicht, sie zusammenzumixen, das obliegt allein dem Meister. Es ist ein Geheimrezept, wissen Sie? Ich habe es mir sogar patentieren lassen“, sagte er stolz und versuchte sein breites Lächeln gegen ein verlegenes einzutauschen. Es misslang. Herr Kuhn gehörte jedenfalls nicht zu den anstrengenden Menschen, die ständig bemüht sind, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und schmollen, wenn man sie nicht von sich aus lobt. „Sie werden also auch für das Büro zuständig sein, ja? Doch bevor ich mich vergewissere, ob sie tatsächlich mit zehn Fingern tippen können - hä, hä, hä - kleiner Scherz am Rande - demonstriere ich Ihnen hier eben mal das Prozedere. Da im Eimer baumelt das Ende vom Venentubus, diesem Schlauch hier, der da in der Vene steckt.“ Er hob den Arm der Puppe an und ließ ihn gleich darauf wieder fallen. „Der zweite Schlauch steckt in der Arterie. Durch ihn wird Embalming Flower in den Körper gepumpt.“ Er machte eine Pause und die Druckpumpe lief mit einem Summen an. „Sehen Sie, was passiert?“, rief er begeistert. „Mein Embalming Flower schiebt das schon fast gestockte Blut aus jedem noch so kleinen Gefäß vor sich her, und da - sehen Sie hin - tropft es in den Eimer.“

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