Die Gendarmerie Nationale untersteht zwar dem Verteidigungsminister und er als Kommissar, Mitglied der Police Nationale, letztlich dem Innenminister. Aber im Rahmen eines Kooperationsexperimentes hatte man im vergangenen Jahr die Zusammenarbeit über die ministeriellen Kompetenzgrenzen hinweg ausprobiert und ihre Vorteile erkannt.
Zu seiner Erleichterung meldete sich Buc. Auch ihn kannte er vom letzten Jahr her, als sie den Mordfall gemeinsam aufgeklärt hatten. Der Kommissar gab eine kurze Lagebeschreibung und wies an, die anfahrenden Kollegen per Funk zu verständigen, dass sie nach einem großen schwarzen Wagen Ausschau halten sollten, der mit hoher Geschwindigkeit auf der RN 1215 in Richtung Soulac sur Mer unterwegs sei. Möglicherweise könnte das der flüchtige Fahrer sein.
Dann hielt er Ausschau nach Louise. Diese hatte inzwischen ihre Kamera weggesteckt. Moulin sah, dass sie sich um eine Gruppe von Kindern kümmerte. Es rührte ihn, dass sie bemüht war, diese von den Ereignissen abzulenken.
Wenig später hörte er die Signalhörner der Polizeifahrzeuge, die sich in hohem Tempo näherten. Unter den aussteigenden Gendarmen erkannte er auch Legrange wieder. Er winkte ihn zu sich. Während die anderen Gendarmen sich zunächst um den Verletzten kümmerten, berichtete Moulin diesem von dem Geschehen.
Inzwischen näherten sich, der Geräuschkulisse nach zu urteilen, gleich mehrere Rettungsfahrzeuge dem Ort des Geschehens. Moulin drehte sich um. Und richtig! Insgesamt drei Rettungswagen und ein Notarztfahrzeug näherten sich der Unfallstelle. Der Arzt kümmerte sich unverzüglich um den schwer verletzten Radfahrer, der von dem Auto erfasst worden war. Die Sanitäter wandten sich teils den leichtverletzen Radfahrern, teils den Fahrgästen des Zuges zu, die durch die Notbremsung geringfügige Blessuren erlitten hatten.
Legrange murmelte: „Nicht schlecht, wie schnell die es von Lesparre bis hierher geschafft haben!“
Der Kommissar wandte sich wieder zu Legrange und gemeinsam begingen sie die Unfallstelle, um nach irgendwelchen Hinweisen zu suchen. Legrange fand eine Reihe von Glassplittern, die möglicherweise von dem Fluchtfahrzeug stammen könnten. Dann untersuchten sie das Fahrrad des Opfers. An der rechten vorderen Radgabel sowie am Lenkergriff entdeckten die erfahrenen Beamten sofort diverse Lacksplitter.
„Das ist gut“, knurrte Legrange in sichtlichem Zorn. Privat fuhr er leidenschaftlich gerne Fahrrad und engagierte sich auch dafür, das umweltfreundliche Verkehrsmittel zu fördern. Unfälle mit Radfahrern bearbeitete er entsprechend besonders intensiv. „Diese Spuren werden uns zwar eine Menge Lauferei bei einschlägigen Reparaturwerkstätten einbringen, aber die Chance, den Kerl zu erwischen, ist verdammt hoch.“
Gerade als Moulin Legrange anwies, sich um den unter Schock stehenden Lokführer zu kümmern, trat Louise zu den Beamten. Bevor sie etwas sagen konnte, hob der Kommissar kurz die Hand:
„Moment noch.“ Dann zu Legrange gewandt: „Und dann verständigen Sie noch die Bahnverwaltung. Die müssen uns einen Lokführer herschicken, damit wir später wieder den Übergang räumen können. Ich kann das Ding nicht in Bewegung setzen.“
Dabei blickte er in Richtung Restaurant. Auf dem Weg warteten hinter seinem Wagen bereits 10 oder 11 weitere Fahrzeuge, deren Insassen sich zum Teil der Unfallstelle genähert hatten und nun eine unschöne Kulisse von Gaffern bildeten. Dann wandte er sich Louise zu.
„Mir ist da was eingefallen.“ sagte diese und deutete auf den Saucenfleck auf Moulins Hemd. „Da war doch dieser ungehobelte Kerl im Restaurant. Der ist vor uns aufgebrochen, hat aber am Parkplatz vielleicht noch auf seinen Begleiter gewartet, der bezahlen musste. Jedenfalls ist unmittelbar vor uns ein Wagen über den staubigen Weg davongerast. Da könnte doch ein Zusammenhang bestehen, oder blamiere ich mich jetzt?“ Mit einem etwas ängstlichen Blick auf Moulin beendete sie ihre Rede.
„Nein, überhaupt nicht!“ erwiderte der Kommissar. „Jetzt, wo du es erwähnst, fällt es mir auch wieder ein. Da hätte ich von selbst drauf kommen müssen. Natürlich! Wenn das stimmt, dass da ein Zusammenhang besteht, dann haben wir nun sogar schon eine erste Täterbeschreibung. Es könnt entweder der dicke Rüpel gewesen sein, der mir den Fleck auf mein Hemd beschert hat, oder aber die…“, er hielt kurz inne und wählte dann mit Absicht eine despektierliche Formulierung „…die Büroklammer, die dem Dicken die Rechnung bezahlt hat.“
Louise musste unwillkürlich schmunzeln. Der Kommissar hatte sich selbst in dieser Situation einen dezenten Sinn für Humor bewahrt. Das gefiel ihr.
Am Donnerstagmorgen war Klara mit Mike, dem ältesten Sohn, in den Wagen gestiegen um Lena an den Strand von Soulac sur Mer zu bringen. Anschließend wollten sie nach Le Verdon auf den Markt. Sie hatte beim letzten Besuch dort vor einer Woche eine Tischdecke entdeckt, die sie jetzt kaufen wollte. Außerdem wollte Klara noch eine weitere rosafarbene Haarspange besorgen. Ihr waren Lylis neidische Blicke in Richtung Lena nicht entgangen.
Alwin hatte – wie immer knurrend – zugestimmt. Diesmal war seine Brummigkeit noch stärker gewesen. Klara musste insgeheim schmunzeln. Es war nicht nur die alltägliche Standardbrummigkeit, die ihr Mann an den Tag legte, sondern der war vom Vorabend noch deutlich angeschlagen, weshalb er auch nicht so richtig motiviert gewesen war, seine Tochter zum Training nach Soulac zu fahren. Alwin und sie hatten am Vortag mittags zufällig im Spülhaus eine neue Bekanntschaft geschlossen und diese noch am gleichen Abend vertieft.
Am Vorabend war Alwin mit dem Geschirr der ganzen Familie zum Spülen vorausgegangen, Klara wollte folgen. Im Spülhaus angekommen, musste Alwin beim Ausräumen des Geschirrkorbes feststellen, dass er sowohl Spülmittel als auch Geschirrtuch am Klappi, wie er seinen Wohnwagen zu nennen pflegte, vergessen hatte. Deshalb hatte er sich vom Spülbecken umgedreht und durch die Öffnungen des hölzernen Spaliergitters in Richtung seines Stellplatzes hinübergerufen: „Klara! Ich brauche Spülmittel und Spültuch!“
Alwin hat bei normaler Unterhaltung schon eine durchaus tragende Stimme. Wenn er sie aber erhebt, dann wird es sehr laut. Ein Umstand, der ihm beim Training seiner Fußballjugendmannschaften durchaus zum Vorteil gereicht, hier jedoch bei den Mitspülern im überdachten Raum für heftiges Zusammenzucken sorgte. Nur seine Spülnachbarin sagte milde:
„Dann bedien dich. Brauchst doch gar nicht so laut brüllen, wenn ich direkt neben dir stehe.“
Damit drückte sie ihm grinsend eine Flasche Spülmittel in die linke Hand, ergriff und schüttelte energisch seine rechte Hand und sagte:
„Gestatten, auch Klara. Aber die von David. Und aus Herbede.“ Sie kicherte. „ Wir sind auch so was wie Stammgäste hier. Schön, dass wir uns jetzt direkt kennenlernen.“
Alwin zuckte zusammen. Leicht verlegen erwiderte er:
„Alwin, aus Saarburg, mit auch Klara“, er verhaspelte sich. „Äh, ich meine, auch mit Klara und Mike, Phil, Lena und Lily, seit Jahren hier. Im Klappi auf dem Stellplatz 89.“
„Ich weiß“, meinte seine Nachbarin. „Ach ja“, fuhr sie fort, „ und ich bin hier mit David“, dabei wies sie mit dem Daumen auf den neben ihr stehenden schlanken, fröhlich schmunzelnden Mann, „und mit Kathie und Benoît. Wir sind auf Stellplatz 16. Wo Saarburg liegt, weiß ich.“
„Und ich weiß, wo Herbede liegt. Vorausgesetzt, es ist der Ort, wo der berühmte Herbeder Tropfen herkommt.“, setzte Alwin das Gespräch fort. „Den habe ich zwar noch nie getrunken, aber schon manches darüber gehört. Der soll gut schmecken.“
Inzwischen war seine Klara auch eingetroffen, mit Spülmittel und reichlich Geschirrtüchern. David schaltete sich in das Gespräch ein:
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