1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Sie löste die fesselnden Gurte, Francis richtete sich auf. Benommen blieb er sitzen, hielt den Kopf mit beiden Händen. Was sagten die Leute, wie hieß die schwarzhaarige Frau?
„Okay - Jane - richtig? Ich will weder mit der Organisation noch sonst irgendjemandem etwas zu tun haben. Der Stick ist jetzt hier, also ist mein Job erledigt. Mein Auto steht in Newton Mearns, ganz in der Nähe. Wenn ihr mich in Ruhe lasst, dann halte ich die Klappe und fahre nach Hause.“
„Deine Kiste ist über tausend Jahre weit weg.“
„Hört auf mit den Lügen!“, schrie Francis, fasste sich sofort an den Kopf. Verdammter Kreislauf! „Das mit dem Jahr 902 ist ein schlechter Witz! Zuletzt lag ich auf einem Metallboden. Ist das ein Bunker unter der verfallenen Hütte im Wald?“
Jane hob in einer hilflosen Geste die Hände. „Sorry, aber du hast eine lange Reise hinter dir. Ich habe genug Probleme und als Märchentante war ich noch nie gut.“
Francis rutschte von der Liege herunter, die Beine gaben nach, so dass Jane ihn stützen musste. John Robert öffnete die Tür zu einem Gang, mit Wänden aus Metall, der von LED-Lampen erhellt wurde. Die Luft roch frischer, hatte einen höheren Gehalt an Feuchtigkeit. Mit Hilfe der Frau humpelte Francis dort entlang, sah sich neugierig um.
„Ich habe richtig vermutet! Es ist ein Bunker.“
„So etwas Ähnliches; zur Hälfte ein Stollen im Berg und eine verschleierte Felswand als Tarnung. Stahl trennt uns von der Welt draußen. Tageslicht gibt es keines, deshalb sage ich scherzhaft U-Boot.“
Ein Bunker im Wald! Nicht gerade ein angenehmes Versteck, wie Francis fand. Aber es musste einen Ausgang geben und damit eine Fluchtmöglichkeit. Er wollte weg von den Verrückten, eine Polizeistation suchen. Dann konnten Spezialeinheiten das Nest ausheben.
„Wie viele Personen arbeiten bei dir?“
„Neben mir und dem Doc sind es nur Galam und Andra. Sie gehören zu den sogenannten Natives, so nennen sich die jungen Leute aus dieser Zeitlinie, während sie uns als 21er bezeichnen. Sie kamen als Kinder zur Organisation, wurden umfassend ausgebildet und leben nun hier. Das ist vorübergehend, bis sie endgültig in das 21. Jahrhundert versetzt werden.“
„Keine Lügen! Wo genau liegt der Bunker?“
„Schottland, südwestliche Ausläufer der Grampian Mountains.“ Jane machte eine kurze Pause. „Im Jahre 902.“
John Robert trat hinzu. Ein feiner Rauchkringel stieg aus seiner Pfeife. „Wie war das Wetter, als dich Eydis betäubte?“
Francis verstand den Sinn der Frage nicht, versuchte sich aber trotzdem zu erinnern. „Ein heißer, sonniger Augusttag. Die Wettervorhersage prophezeite ein langanhaltendes Hoch.“
John grinste und deutete mit dem Daumen nach oben. Sein Blick traf Jane. „Das Turmzimmer wäre ideal. Was denkst du?“
Jane zuckte mit den Schultern, forderte Francis zum Folgen auf. Sie führte ihn zum Ende des Ganges, an dem eine Wendeltreppe stand. Gerippte Aluminiumstufen vermittelten denselben nüchternen Charme wie der Rest des Bunkers. Francis keuchte angestrengt während des Treppensteigens, fühlte sich wie ein alter Mann. Das Stockwerk darüber bestand wieder aus einem Flur und Zimmern, ein anderer Wohntrakt. Er lag in Dunkelheit, Francis sah kaum etwas. Das wenige Licht der Treppe ließ nur den Flur und eine unbekannte Anzahl von Türen erahnen. Jane ging weiter nach oben mit einer Geschwindigkeit, bei der Francis nicht mithalten konnte. Am oberen Treppenende schwang eine rechteckige Luke mit leisem Summen zur Seite, als Jane mit dem linken Arm eine Bewegung machte.
Francis passierte die Öffnung. Er stand in einer Art Felsengrotte, die wenige Quadratmeter umfasste. Einzelne Gräser hingen an der umlaufenden Steinmauer herab. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine Brüstung, die auch aus Fels zu bestehen schien. Als Francis sie anlangte, fühlte er jedoch Plastik und er beugte sich darüber. Vor ihm fiel eine fast senkrechte Wand hinab, getarnt als Felsen. Unten floss ein Bach und um die Grotte herum gab es Hügel ähnlicher Größe. Die Landschaft bestand bis zum Horizont aus Bergen. Ungewöhnlich fand er die vielen Bäume. Sahen die Highlands nicht anders aus, grasiger? Wo kamen die Bäume auf einmal her?
Etwas lief am Gesicht von Francis herunter, erst langsam und dann immer intensiver. Es verbreitete Kälte. Als er mit der Hand an die Haut langte, fühlte er Nässe. Verblüfft sah er nach oben. Dunkle Wolken standen am Himmel, ein Blitz zuckte und ein starker Strom aus Regentropfen fiel auf ihn herab. Wieso merkte er es erst jetzt? Verdammte Spritze von Eydis! Sein Gehirn schien aus Watte zu bestehen.
„Das hübsche Atlantiktief hängt da seit ein paar Tagen“, bemerkte Jane und folgte seinem Blick. „Den Platz hier nennen wir Turmzimmer. Unsere Energie beziehen wir aus Brennstoffzellen, deswegen passt für mich der Vergleich mit dem U-Boot. Hinten gibt es einen zusätzlichen offenen Bereich, den Pferdestall. Die Tiere sollen Sonnenlicht haben, außerdem lässt sich der Mist leichter entsorgen.“
Francis hatte Mühe, den Worten zu folgen. Ungläubig starrte er die Wolken an. Aus großer Schwärze zuckten hin und wieder Blitze. Viele Sekunden später folgte donnerndes Grollen. Der böige Wind peitschte den Regen in Francis´ Gesicht. Bewegungslos stand er an der Brüstung, unfähig zu klaren Gedanken. Er konnte den Blick nicht von dem Unwetter abwenden, den tief hängenden Gewitterwolken und den heftigen Blitzen. Verzweifelt suchte Francis nach vernünftigen Erklärungen. Hatte man ihn lange bewusstlos gehalten, bis zu einem Wetterwechsel? Die schmerzenden Wunden im Gesicht, das immer noch geschwollene linke Auge, sagten das Gegenteil. Seit dem Angriff der Reiter waren höchstens wenige Stunden vergangen. Das passte keinesfalls zusammen!
„Das ist unmöglich! Der Wetterbericht sprach von keiner Änderung in den nächsten Tagen!“
Jane Wilcox blickte missmutig zum Himmel. Der Regen sammelte sich auf ihrer Haut, lief den Hals hinunter.
„Bist du nun überzeugt, im Jahr 902 zu sein? Die Organisation kann das Wetter nicht beeinflussen, sendet aber ausgebildete Kinder in das 21. Jahrhundert.“
„So wie Eydis Leifsdottir“, brummte Francis leise. Die Erkenntnis traf ihn hart. Sie hatte die Wahrheit gesprochen, ihn durch ein Zeitportal geschickt und nun war er weit weg, gefangen in einem fremden Jahrhundert. Was hatte die schwarzhaarige Frau gesagt? Man schreibt das Jahr 902? Wie sah eine Rückkehr aus?
Jane redete erneut, diesmal mit einem Lächeln im Gesicht. „Eydis ist ein freches Biest, das ist wohl eine Spezialität dieser Skandinavierinnen. Wir hatten hier auch einmal so eine, sie hieß Inga.“
„Ist die schon im 21. Jahrhundert?“
Das Lachen von Jane erstarb, ihr Gesichtsausdruck wurde unvermittelt ernst. Scheu blickte sie für einen Moment zur Seite.
„Nein, sie ist desertiert!“
Francis riss überrascht die Augen auf. „Ach! Fangen die Kinder selbstständiges Denken an, wenn sie älter werden? Schütteln sie die Fesseln ab, solange sie auf vertrautem Terrain sind?“
„Das hat nichts mit uns zu tun, Mann! Die Kinder werden klasse behandelt, wesentlich besser als bei den Meistern der Zeit. Inga hat einfach einen verdammten Dickkopf.“
„Du kannst mir viel erzählen!“
Jane zeigte auf die rechteckige Luke. „Hier kommt Wasser von oben und ich habe heute schon geduscht. Die Kantine ist trockener und wärmer. Schwing die Hufe!“
Francis fügte sich notgedrungen. Zwei Etagen tiefer betrat er einen Raum, gefüllt mit Tischen und Bänken. Hinter einer Theke erkannte er Küchengeräte. Nur zwei Personen saßen in der Kantine. Francis bemerkte ein Mädchen mit dunkelroten Haaren, gekleidet in Jeans und einem unbedruckten Shirt. Die Statur war schmächtig, die Arme dünn. Neben ihr saß ein bärtiger junger Mann, muskulös und mit schlankem Körperbau, der einen durchtrainierten Eindruck vermittelte. Jane stellte die beiden als Andra und Galam vor. Das Mädchen nahm ab und zu einen Schluck aus einem Becher mit Orangensaft. Ansonsten starrte sie intensiv auf ihren Reader für elektronische Bücher und nahm von niemandem Notiz.
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