„Überrascht?“
Francis drehte den Kopf. Eydis Leifsdottir stand vor ihm, einen modernen Bogen locker in den Händen haltend. Auf dem Rücken trug sie einen Köcher, aus dem eine Reihe von Pfeilschäften hervorlugten. Das Gesicht der jungen Frau machte auf Francis den Eindruck einer Sphinx, die Tote schien sie mental kalt zu lassen. Sie durchsuchte die Leiche, befreite Francis mit Hilfe eines gefundenen Schlüssels.
„Wir sollten uns beeilen. Das Pärchen arbeitete nicht alleine, die Gegend ist geradezu verseucht von ähnlichen Typen.“
Francis betrachtete sie fassungslos. Der Komplize der toten Frau war nirgends zu sehen. Das gelassene Auftreten von Eydis sagte jedoch viel über sein Schicksal aus.
„Was soll das? Sie fragten mich ...“
Eydis winkte rasch ab. „Alles zu seiner Zeit. Nehmen Sie Ihr Pferd, meines steht weiter hinten. Wir müssen reden.“
„Das glaube ich allerdings!“ Francis rieb sich die Handgelenke, suchte anschließend nach einem Taschentuch, tupfte vorsichtig das Blut von den Lippen. Das Gesicht brannte wie Feuer und das linke Auge pochte schmerzvoll im Rhythmus des Herzschlages. Er konnte damit fast nichts sehen, es schwoll an. „Sie haben mich hereingelegt, absichtlich in die Falle geschickt mit der theatralischen Übergabe einer Kaugummipackung! Ich hatte in meinem Leben öfters Ärger, doch niemals verprügelte man mich wegen so einer Idiotie!“
Eydis wedelte mit ihrem Bogen, zeigte ansonsten keine Gefühlsregung. „Es war notwendig, um meine Waffe aus dem Versteck zu holen. Die anderen waren abgelenkt. Wir müssen jetzt los!“
Francis schüttelte den Kopf. So leicht wollte er sich nicht abspeisen lassen. Es gab einen Überfall, zwei tote Personen und viel zu bedenken. Man musste die Behörden informieren, der Polizei die Umstände genau erklären. Für Francis lief die Tat klar auf eine Notwehrsituation hinaus.
„Dieser Bill sollte nach einem Satellitentelefon suchen. Damit können wir die Polizei rufen!“
„Das werden wir nicht!“ Die Stimme der jungen Frau klang ungewöhnlich scharf. „Es dauert zu lange und traditionell sind Polizisten unbewaffnet. Die Freunde der beiden Typen werden schneller hier sein und ich kann mich nur mit Pfeilen wehren. Entweder wir reiten sofort oder wir sterben!“
Francis presste grimmig das Taschentuch zusammen. „Das ist doch ein Witz! In was sind Sie verwickelt? Worum geht es überhaupt?“
Eydis hob den Zeigefinger. „An einem bestimmten Ort beantworte ich alle Fragen. Ich verspreche es!“
Francis betrachtete die Isländerin mit gemischten Gefühlen. Es entsprach nicht seinem Charakter, sich als Unschuldiger von einem Tatort zu entfernen. Andererseits konnte Eydis Recht haben und weitere Killer in der Gegend sein. Notgedrungen stimmte er zu und stieg mühsam in den Sattel.
Eydis ritt in schnellem Galopp durch die Landschaft, passierte eine Landstraße und ignorierte die hupenden Autos. Lediglich das Pferd von Francis scheute. Er brachte es mit Mühe unter Kontrolle. Schließlich erreichten sie an einem Waldweg eine verfallene Hütte. Die Hälfte des Daches war eingefallen, blockierte den Zugang in das Innere. An den Mauern wucherte Efeu empor und überall wuchsen Brennnesseln in dichten Büscheln. Eydis stieg ab und band ihr Tier an einen in der Nähe stehenden Baum.
„Sie erinnern sich noch an die Gespräche über Zeitreisen, die kranken Kinder aus früheren Jahrhunderten?“
Francis torkelte vorwärts. Er brauchte eine Pause und einen Platz zum Hinlegen, keine sinnlosen Diskussionen. Im Pub waren sie ihm bereits auf die Nerven gegangen und momentan hatte er andere Sorgen. Die Schmerzen wurden stärker. Mit dem verletzten Auge sah er überhaupt nichts mehr. Es wurde Zeit für einen Arzt.
„Mir steht jetzt nicht der Sinn nach diesem Schwachsinn. Man versuchte mich zu töten und Sie haben zwei Menschen mit Pfeilen erschossen! Was soll das alles? Ich brauche eine medizinische Versorgung.“
Die junge Frau lehnte sich mit dem Rücken gelassen an die Hütte, verschränkte die Arme vor der Brust. Intensiv musterte sie Francis.
„Vor über tausend Jahren wurde auf Island ein Mädchen geboren und ihre Eltern nannten sie Eydis!“
Francis riss erst die Augen auf, dann lachte er lauthals. „Wollen Sie mir weismachen, dass ...“
Statt einer Antwort griff Eydis mit den Händen in ihren Mund, zog die Lippen für einen Moment zur Seite. Die tadellosen weißen Zähne wurden deutlich sichtbar.
„Sie bewunderten das sicher, mein Gebiss wird ständig von vielen Menschen gelobt. Es gibt dafür einen Grund. Es sind Implantate, sie hängen an Titanstiften, die man in den Kieferknochen bohrte. Ich besitze fast keinen eigenen Zahn mehr. Wissen Sie warum? Es war kein Pferdetritt, wie sie einmal so spöttisch bemerkten.“ Sie sah Francis herausfordernd an. „Das Schiff meiner Eltern geriet in Seenot und ich wurde als einzige Überlebende an die schottische Küste gespült. Durch die Kleidung und Sprache konnte man sofort meine Herkunft erkennen. Sie hatten tragische Erfahrungen gemacht mit Leuten aus dem Norden, behandelten mich entsprechend. Ich war eine Sklavin und gleichzeitig leider eine Projektion für Rachegelüste. Für jedes vermeintliche Fehlverhalten, jeden angeblich schlecht erfüllten Dienst zog mir der Dorfschmied brutal einen Zahn.“
Francis schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Märchen für Leichtgläubige, eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte! Es wurde Zeit für die Wahrheit. Bestimmt ging es um kriminelle Dinge, in welche die Isländerin hineingerutscht war. Eydis hob erneut den Zeigefinger.
„Hören Sie zu! Ich wurde glücklicherweise durch eine Infektion krank, wäre beinahe gestorben. Ein herumziehender Mann kaufte mich und durch ein Zeitportal kam ich an einen anderen Ort. Ich wurde ausgebildet, man erneuerte mein Gebiss. Seitdem arbeite ich für etwas, das sich knapp als Organisation bezeichnet. Die Leute sind schwerpunktmäßig im 10. Jahrhundert unterwegs, sammeln Kinder wie mich ein um sie auszubilden und für ihre Zwecke einzusetzen.“
„Das ist Blödsinn! Was sollte man mit solchen Kindern in diesem Jahrhundert anfangen?“
„Kennen Sie den Politiker Albert Carter?“
Der Name sagte Francis etwas. Der Mann hatte Ambitionen auf das Amt des Premierministers, die Chancen standen gut. Sein Stolz war ein Pferdegestüt in Yorkshire und Francis glaubte gelesen zu haben, dass bereits einige Tiere das Rennen in Ascot gewonnen hatten.
„Man wird eine junge Pferdetrainerin bei ihm einschleusen und ihn unauffällig überwachen“, sprach Eydis weiter. „Ich wurde für den Einsatz ausgewählt, da seine Tochter ungefähr mein Alter hat und die Chance besteht, dass wir uns anfreunden. Ablehnen kann ich nicht, die Organisation versorgt mich mit Papieren und Finanzen. Ich bin völlig abhängig, die ideale Mitarbeiterin. Meckern darf ich, aber ansonsten bleibt mir nur der Gehorsam übrig.“
Eydis zeigte ein grimmiges Lächeln, während Francis die erhaltenen Informationen zu verarbeiten versuchte. Sein Verstand weigerte sich, das Gehörte zu akzeptieren.
„Nehmen wir an, dass es stimmt, was ich immer noch nicht glaube. Welchen Zweck verfolgt diese ominöse Organisation? Woher kommt die Technologie?“
„Ich weiß wenig. Es ist so eine typische Frage von Macht und Einfluss. Man will wichtige Bereiche unter Kontrolle bringen, im Hintergrund die Fäden ziehen. Im Grunde ist es mir egal, aber ein Problem tauchte auf. Es gibt eine andere Gruppe, die ebenfalls Zeitreisen beherrscht. Sie nennen sich hochtrabend Meister der Zeit. Die beiden freundlichen Reiter von vorhin arbeiteten für sie. Wie es aussieht, scheiterte ein Ablenkungsplan und die Meister gehen aufs Ganze.“
Francis ging auf und ab, langte an die Stirn. Zwischendurch schüttelte er den Kopf. Eydis lehnte an der Hauswand, beobachtete ihn neugierig. Ein leichtes Schmunzeln erschien in ihrem Gesicht.
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