„Die Route zurück zum Gestüt verläuft jenseits der Kuppe dort. Sie drehen an der nächsten Kreuzung nochmal rechts und bleiben auf dem Feldweg. Stoppen Sie nirgends, egal was Sie sehen!“
Francis Stevens betrachtete Eydis mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen. Was sollte das bedeuten?
„Ihre Sinne sind nicht geschärft! Sie reiten durch die Gegend, ohne zu bemerken, wer oder was irgendwo lauern könnte.“
„Vielleicht die bösen Monster?“, fragte Francis spöttisch.
Eydis griff in die Tasche ihrer Jacke, reichte ihm einen länglich, weißen Gegenstand. Dabei beugte sie sich weit zu ihm herüber. Francis nahm es überrascht, betrachtete das Geschenk.
„Eine Packung Kaugummi?“
Eydis grinste verschlagen, drehte ihr Pferd um. „Es ist ein Test. Stecken Sie es ein und tun Sie so, als wäre es wichtig.“
Sie gab ihrem Hengst die Sporen und ritt in scharfem Galopp in das Wäldchen hinein. Francis traute sich das angesichts seiner geringen Kenntnisse nicht zu, blieb im Trab und folgte dem Ratschlag von Eydis. Neugierig betrachtete er die Packung, eine handelsübliche Marke, noch ungeöffnet. Skurriles Verhalten schien tatsächlich der gemeinsame Nenner von Eydis Leifsdottir und Maggie Thornton zu sein. Achselzuckend steckte er den Kaugummi in die Brusttasche.
Nach dem Hügel gabelte sich der Weg erneut, wie von der Isländerin vorhergesagt. Francis Stevens ritt an einem Weizenfeld vorbei. Die Landschaft um Glasgow machte auf Francis den üblichen friedlichen Eindruck. Einige der sanften Erhebungen kamen ihm bekannt vor, er war genau auf der anderen Seite mit Eydis geritten. Der Weg schien zu stimmen. Was sollte die komische Bemerkung über Dinge, die angeblich irgendwo lauerten? Ein Scherz? Eine dumme Idee?
Kopfschüttelnd trabte Francis in Richtung einer Baumgruppe und sah zu seiner Überraschung dort zwei Pferde angebunden stehen. Eine Frau lag auf dem Gras, die Hose des rechten Beines hochgekrempelt, während ein Mann einen Lappen darum wickelte. Beide Personen trugen Reitkleidung, schwarze Stiefel und einen Reithelm. Sie nahmen von dem Neuankömmling zuerst keine Notiz, sondern redeten miteinander. Unter dem Helm der Frau lugten schwarze Haare heraus. Nachdem Francis neugierig angehalten hatte, sah ihr Begleiter auf und erklärte, dass sie gestürzt sei.
„Ich heiße Jenny“, sagte die Reiterin mit dem Anflug eines Lächelns. Sie rieb ihren Fuß. „Könnten Sie absteigen und zusammen mit Bill anpacken? Ich muss auf mein Pferd und kann nur mit einem Bein auftreten. Mit zwei Stützen wären die Erfolgschancen größer.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Francis höflich. Beide Reiter schätzte er auf Mitte zwanzig, wahrscheinlich ein junges Paar. Er kniete neben der Frau und betrachtete den Fuß. Außer weißer und gepflegter Haut erkannte er keine Verletzung, nicht einmal die typischen bläulichen Symptome einer Prellung.
„Sie scheinen viel Glück gehabt zu haben. Scheute das Pferd?“
Jenny stoppte das Lächeln, zeigte ein höhnisches Grinsen. Francis spürte im gleichen Moment einen stechenden Schmerz im Nacken, der sich im Körper ausbreitete und alle Muskeln verkrampfte. Er fiel zu Boden und registrierte wie hinter einem Schleier eine Gestalt über ihm, die einen Elektroschocker hielt. Mit geübtem Griff packte Jenny Francis, drehte ihn auf den Bauch, legte ihm Handschellen an. Der mit Bill bezeichnete Mann steckte den Schocker ein und durchsuchte die Taschen.
„Was hat die Kleine dir gegeben?“
Francis blickte verstört, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich verstehe kein Wort!“
Jenny gab ihrem Begleiter einen Wink, der den Elektroschocker erneut ansetzte. Die Elektrizität schien jeden Muskel zu entzünden, ihn in Feuer zu verwandeln. Francis schrie auf.
„Hat das ausgereicht, oder will mein ehemaliger Offizier den Helden spielen?“ Jenny schaute gelangweilt. „Das kleine Biest aus Island hat einen sechsten Sinn für Gefahren, man kommt nicht an sie heran. Sie bemerkte unsere Anwesenheit, gab dir etwas. Ich sah es deutlich im Fernglas. Was ist es?“
Francis berichtete über die Packung Kaugummi, was bei seinen Peinigern Skepsis verursachte.
„Vielleicht ist es in der Verpackung versteckt!“, vermutete Bill, riss sie auseinander, knickte jeden Streifen, ehe er ihn achtlos zur Seite warf. Schließlich stieß er einen Fluch aus, packte Francis am Kragen.
„Da ist nichts drin! Wo ist es?“
„Wo ist was?“
Bill schlug zu. Die Faust traf Francis mitten im Gesicht, es gab ein hässliches Geräusch, als würden Knochen brechen. Blut lief über die Lippen, hinterließ einen metallischen Geschmack im Mund. Ein weiterer Schlag traf das Auge, Schmerzwellen durchströmten den Körper von Francis.
Jenny machte danach eine abwehrende Handbewegung. Das verletzte Auge brannte wie Feuer, Francis sah verschwommene Umrisse der Umgebung. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich taub an. Gerne würde er den beiden alles sagen, doch er wusste nichts.
„Wir müssen sicher sein, Bill. Vielleicht hat das Biest ihn ebenfalls ausgetrickst. Hole aus meinen Satteltaschen das Satellitentelefon und rufe in der Zentrale an. Wir verfolgen Eydis und schnappen sie. Heute bringen wir es zu Ende.“
Bill gehorchte, während Jenny sich neben Francis setzte. Fast zärtlich strich sie über das kantige Gesicht, legte die braunen Haarsträhnen nach hinten.
„Eigentlich siehst du nett aus. Leider steckst du in etwas drin, dass mindestens zwei Nummern zu groß für dich ist.“ Sie zog ein Messer aus ihrer Tasche, fuhr damit am Hals des Mannes entlang. „Weil du süß bist, werde ich dich schmerzlos töten. Ich muss abwarten, ob Bill andere Befehle bringt.“
Francis wollte den Kopf heben, doch Jenny drückte ihn zurück.
„Hören Sie!“, keuchte er, bemühte sich um Konzentration. „Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Wenn Sie mich einfach laufen lassen, dann verspreche ich ...“
„Still!“ Jenny legte ihm den Zeigefinger auf den Mund. „Du weißt nichts, das ist uns klar. Jedoch kann ich keinerlei Rücksicht nehmen. Zuviel steht auf dem Spiel.“
Francis suchte nach einem Ausweg. Die Handschellen verhinderten eine Flucht. Aber vielleicht ließ sich mit vernünftigen Argumenten etwas erreichen. Bevor er reden konnte, presste Jenny ihm das Messer an den Hals und schüttelte den Kopf. Francis gab es auf. Sie wollte keine Gespräche. Jenny saß eine gefühlte Ewigkeit neben ihm, bis sie unruhig wurde und den Kopf hob.
„Bill? Was gibt es für Neuigkeiten? Was hat man gesagt?“
Schweigen war die Antwort. Jenny blickte zur Seite.
„Bill? Ich will verdammt noch mal wissen, was Sache ist! Töten wir ihn gleich oder bringen wir ihn zu einem bewährten Platz für Verhöre?“
Ihr Partner schwieg. Jenny runzelte die Stirn, sah zu Francis und betrachtete ihn schier endlose Sekunden. Dann zog sie eine Pistole aus einem versteckten Futteral. Francis starrte mit dem gesunden Auge auf sie. Wollte Jenny ihn erschießen? Doch die Frau drehte sich um. Wie eine Katze kroch sie durch das Gras, spähte über eine Garbe Unkraut in Richtung der Baumgruppe, an der sie und ihr Partner die Pferde angebunden hatten. Offensichtlich sah sie nicht das Gewünschte, richtete sich vorsichtig weiter auf.
„Bill? Was ist los?“
Francis hörte ein Rauschen, verbunden mit dem undefinierbaren Laut eines Einschlages, wie beim Auftreffen einer Faust auf Muskeln. Jenny torkelte leicht nach hinten. Erneut ertönte das merkwürdige Geräusch. Diesmal fiel die Frau auf die Knie, blieb einen Moment in der Position, bis sie langsam vorwärts kippte und regungslos liegenblieb.
Francis rollte schwerfällig zur Seite. Die auf dem Rücken gefesselten Hände behinderten ihn. Keuchend rutschte er auf den Knien voran.
Jenny zeigte keine Bewegung, obwohl Francis sich näherte. Als er die Liegende erreicht hatte, stockte ihm der Atem. In ihrer Brust steckten zwei Pfeile, dicht nebeneinander in Herznähe! Ein kleiner Blutfleck färbte die graue Windjacke an dieser Stelle rot ein. Die Augen starrten leer in den Himmel und eingefroren in ihrer Mimik war der Ausdruck grenzenlosen Erstaunens.
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