„Hat mich auch gefreut, mit dir zur reden“, knurrte sie.
*
Die folgenden Tage gewann Francis Stevens einen Eindruck von den Abläufen in der Station. Es gab außer dem Mittagessen keine geregelten Essenszeiten. Jeder kam und ging in die Kantine, wie es ihm passte. John Robert, der Arzt, schien überwiegend an Langeweile zu leiden. Er lud Francis zu Schachpartien ein und erzählte dabei von seiner Vergangenheit. Nach mehreren Jahren als Assistenzarzt in der Chirurgie hatte er ein Gespräch mit der Organisation, willigte ein. Es sei die neue Herausforderung gewesen, bekannte er freimütig.
Jane und Galam verließen regelmäßig die Station zu Ausritten, die im Regelfall bei Sonnenaufgang begannen und bis zum späten Abend dauerten. Francis glaubte, eine steigende Besorgnis bei Jane zu erkennen. Sie schwieg über die Ergebnisse der Ausflüge, zog sich mit Galam und dem Arzt zurück zu Besprechungen, deren Sinn und Zweck ihm verschwiegen wurden.
Am Anfang gefiel Francis die Rolle des Außenseiters, er kümmerte sich wenig um die anderen. Er blieb lange im Bett liegen, aß alleine in der Kantine. Was ihn störte, war die Abwesenheit alkoholischer Getränke. Entweder gab es sie nicht oder sie standen in verschlossenen Schränken. Missmutig trank er Säfte und Wasser.
Francis inspizierte die Station, um die Zeit totzuschlagen. Die Zimmer in dem Stockwerk über der Kantine waren zwar offen, doch leer. Sie rochen nach frischen Möbeln und abgestandener Luft, glichen in der kargen Ausstattung seinem Quartier. Die Lagerräume weiter unten enthielten Lebensmittel und Kleider. Andere Räume hatten Türen aus Stahl ohne erkennbares Schloss. Wie öffnete man sie?
Nachdem er alle begehbaren Teile der Station erkundet hatte, wurde für Francis die Langeweile größer. Er vermisste das regelmäßige Bier. Die Wände seines Quartiers schienen näher zu kommen, je länger er sich darin aufhielt. Ziellos wanderte er dann durch die Gänge, wartete in der Kantine auf die nächste Schachpartie mit John Robert. Als das Wetter besser wurde, schlug der Arzt das sogenannte Turmzimmer vor. Francis genoss den unverhofften Sonnenschein und den Ausblick auf die Berge. Die unübliche Menge an Wald faszinierte ihn. So sah Schottland also früher aus.
„Ich kenne einen alten Spruch aus Arabien, der auf dich passt“, meinte John Robert und blies den Rauch seiner Pfeife in die Luft.
„Ach, was?“
„Wer in die Wüste geht, trifft dort sich selbst.“
Francis seufzte. So ein Unsinn! „In Schottland gibt es keine Wüsten.“
„Das ist richtig, aber viel Landschaft und Einsamkeit. Wenn du in eine bewohnte Gegend kommst, werden die Dinge dich schockieren. Die Eingewöhnung an die Zustände dieser Zeit braucht Zeit. Interessante Dopplung, oder?“
„Was du nicht sagst!“
John zog an der Pfeife. „Die Natur in den Bergen ist ein Spiegel, so wie die Wüste. Sie wird deine Gedanken reflektieren und du wirst darin dich selbst erkennen. Manchmal ist das Abbild erschreckend.“
Francis verzog unwirsch den Mund. Er hasste pseudophilosophisches Geschwätz. Die Faulenzerei sorgte auf Dauer für Ungeduld und aufsteigende Wut. Man saß nutzlos herum als Gefangener in einer falschen Zeit.
„Schach!“ John Robert grinste, was Francis überrascht registrierte.
„Noch bin ich nicht am Ende“, wehrte er ab und betrachtete die Figuren.
„Ich bin froh, endlich wieder einen menschlichen Gegner zu haben. Der Computer ist eintönig. Früher spielte ich gegen Inga.“
„Die Deserteurin?“ Francis hatte bemerkt, dass Jane das Thema konsequent totschwieg. Aber vielleicht war der Arzt gesprächiger.
„So würde ich Inga nicht bezeichnen. Es ...“
„Wie soll man sonst jemanden nennen, der seine Pflichten und Freunde im Stich lässt?“
Francis sah Jane. Er hatte sie nicht gehört. Ging sie immer so leise die Stufen hoch?
„John,“ redete sie weiter, „ich plane aufgrund der letzten Erkenntnisse einen langen Erkundungsritt in den Osten. Wir sind mindestens eine Woche weg. Aus Sicherheitsgründen will ich einen Arzt mitnehmen.“
Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Francis runzelte die Stirn. „Was geht da draußen vor?“
„In den Bergen passieren merkwürdige Dinge. Die Einheimischen haben Angst.“ John seufzte. „Jane ist zusätzlich belastet durch die Abwesenheit von Inga. Sie waren ein Herz und eine Seele.“
„Wieso ist diese Inga geflohen?“
Der Arzt stand auf, blinzelte in die Sonne.
„Sorry, aber die Vorbereitungen für morgen müssen getroffen werden.“
Zu seinem Leidwesen teilte John nicht mehr mit, verschwand mit eiligen Schritten. Am folgenden Tag brach Jane auf, ließ Francis und Andra in der Station. Das Mädchen las regelmäßig in ihrem Zimmer, tauchte selten in einem öffentlichen Raum auf.
Francis Stevens fühlte nach der Abreise der Gruppe schnell aufkommende Unbehaglichkeit. Er konnte keine exakte Ursache finden, registrierte lediglich ein körperliches Unwohlsein und verließ sein Zimmer. Die Kantine war leer, das Summen der Kühlschränke bildete die einzige Geräuschkulisse. Der monotone Klang zerrte an den Nerven. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass noch jemand anderes im Raum war, drehte sich um. Er sah niemanden. Einbildung? Francis sah verärgert auf die Uhr, wartete mit steigender Ungeduld. Eigentlich sollte Andra auftauchen, ihr Mittagessen einnehmen. Es wurde Zeit für ein Gespräch mit Menschen.
Die Minuten zogen zäh dahin, summierten sich. Andra betrat nicht die Kantine.
Francis verwarf den Gedanken, an der Tür ihres Zimmers zu klopfen. Es würde einen schlechten Eindruck hinterlassen. Allein mit einem fünfzehnjährigen Mädchen in der Station und gleich diese direkte Kontaktaufnahme? Man könnte es falsch auslegen. Er war der Neue, kannte niemanden. Nein, er würde nicht klopfen.
Das Trommeln seiner Finger auf der Tischplatte übertönte eine Weile angenehm das monotone Summen der Kühlschränke. Aus einem unbekannten Grund ging ihm das Betriebsgeräusch auf die Nerven. Francis fühlte eine stärkere Unruhe. Kurz entschlossen stand er auf und verließ die Kantine. Im Gang wurde das Gefühl nicht besser. Die LED-Lampen an der Decke sprangen an, sobald er tiefer in Richtung der Wendeltreppe trottete. Dafür erloschen sie hinter ihm, tauchten den Eingangsbereich zum Speiseraum in Dunkelheit.
„Bewegungsmelder und Energiesparmodus“, sagte er laut vor sich hin, damit ein Geräusch entstand, die unangenehme Stille durchbrochen wurde.
Im Gang hörte man nichts, es gab keine Geräte, nur Lautlosigkeit. Francis hastete mehr die Treppe nach oben, als dass er normal lief. Das neue Ziel war die Luke zum Turmzimmer. Seine Hände ertasteten keinen Hebel, keinerlei Öffnungsmechanismus. Dabei hatte es bei Jane so leicht ausgesehen, ein kleiner Schwenk mit dem linken Arm. Francis fuchtelte herum, suchte eine Lichtschranke, einen Sensor, aber er fand weder das eine noch das andere. Wütend hieb er gegen das Metall.
Die Unruhe in Francis stieg an, er fühlte sich wie betäubt und hielt den Kopf mit beiden Händen fest. Doch die Benommenheit wollte nicht verschwinden. Kalter Schweiß erschien auf der Stirn und ein leichtes Zittern erfasste die Hände. Beim Rückweg klammerte Francis sich an das Geländer, der Boden schien zu schwanken. Er torkelte den Gang entlang. Vorne war der Ausgang, vielleicht konnte er diesen von innen öffnen.
Seine Hoffnung lag auf dem neuen Ziel.
Auch hier erwartete ihn eine Stahltür, ohne jeden Hebel oder ein Schloss. Verzweifelt sank Francis davor zu Boden, hämmerte sinnlos mit den Fäusten dagegen. Das Zittern der Hände wurde stärker, die Umgebung flog plötzlich um ihn herum, wie in einem Karussell.
„Was ist denn mit dir los?“
Andra stand neben ihm. Francis versuchte seine Gefühle in Worte zu fassen, berichtete von den Wänden in der Station, wie sie stetig näher zu kommen schienen. Statt einer Antwort strich das Mädchen mit ihrem linken Arm an der Tür entlang. Mit einem leisen Rollgeräusch glitt der Stahl zur Seite, frische Luft strömte herein und hinterließ auf dem schweißnassen Gesicht von Francis ein angenehm kühles Gefühl. Er robbte hinaus, streichelte mit den Händen die bemoosten Steine, blinzelte in die Sonne. Was für ein Luxus!
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