Galam hob die Hand, forderte zum Halt auf. Francis erkannte weiter vorne eine Biegung und eine sonnenbeschienene Fläche. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass der Graben des Baches seichter wurde. Jane nagte an der Unterlippe, hielt die Zügel ihres Pferdes fester als vorher. Dann öffnete sie den Lederbeutel an ihrem Sattel und zog einen metallisch schimmernden Gegenstand daraus hervor. Francis hätte beinahe durch die Zähne gepfiffen.
„Eine L85? Woher habt ihr das Standardgewehr der Armee?“
Jane legte den Finger auf den Mund und drückte ihm das Gewehr in die Hand. Francis betrachtete es fachmännisch. Es war gepflegt, besaß ein Zielfernrohr und ein gut gefülltes Magazin mit Patronen des Kalibers 5,56 mm. Der Knauf war glatt, ohne Kratzer, genau wie die anderen Teile. Die Waffe sah aus, als käme es direkt aus der Fabrik, unbenutzt, unberührt. Francis glaubte den leichten Geruch nach Öl wahrzunehmen, vermengt mit Plastik. Die L85 sah unterschiedlicher aus als die Versionen, die er aus seiner Dienstzeit kannte. Keine Gebrauchsspuren, keinerlei Abnutzung, fast ein Ausstellungsstück.
„Ab hier kann es brenzlig werden“, flüsterte Jane und nahm ihm die Zügel seines Pferdes ab. Zusammen mit ihrem band sie es an einem Baum fest, der am Rande des Baches wuchs. Galam tat dasselbe. Francis sah ebenfalls ein Gewehr des gleichen Typs bei ihm, was sein Misstrauen verstärkte. Hatte Jane nicht gesagt, dass Schusswaffen die letzte Option seien? Womit rechnete sie, dass man mit Schwertern und Pistolen schlecht bekämpfen konnte?
Jane ging langsam vorwärts, trug keine Waffe in der Hand, nur ein Fernglas. Lediglich die Schwertscheide an ihrer Hüfte schimmerte im Sonnenlicht. Das Gewässer wurde breiter, Francis sah braune Erde an den Uferbänken. Bäume schwankten im auffrischenden Wind, zauberten ein Spiel von Licht und Schatten. Neben dem Geruch nach feuchtem Gras und Moos bemerkte Francis eine andere Duftnote – Rauch! Schwach drang er in die Nase, die Quelle musste nahe sein.
Galam blieb am rechten Ufer, lief geduckt die Büsche entlang. Dabei schritt er betont langsam durch das Wasser wie ein Storch, um kein verräterisches Plätschern zu erzeugen. Weiter vorne mündete der Bach in eine Wiese und das Gelände wurde flacher. Ein Bergtal lag vor Francis, mit dunkelgrünen Weiden und wenig Bewuchs mit Sträuchern und Bäumen. Wer die Zone des Bachbettes ab hier betrat, konnte von jedem gesehen werden, hatte keinerlei Deckung. Jane stoppte deshalb und winkte ihren Begleitern zu. Sie legte sich am Ufer an den Hang, der ihr knapp bis zur Hüfte reichte, und drückte vorsichtig Zweige eines Gebüsches auseinander. Francis bezog Stellung daneben, während Galam absichtlich mit dem Rücken an der Böschung lehnte, um die gegenüberliegende Seite beobachten zu können. Jane deutete mit verkniffenem Gesicht nach vorne.
Francis sah einen kleinen Hügel in der Mitte des Bergtales. Der Bach floss daran vorbei. Auf der Anhöhe erkannte er zwei konzentrische Steinwälle mit einer Holzpalisade und einem zusätzlichen Graben vor dem ersten Wall abgesichert. Hinter den Mauern mussten einmal Hütten gestanden haben, doch jetzt bemerkte Francis nur schwarze Holzstümpfe, aus denen Rauch schwach hervortrat. In den steinernen Wänden klaffte ein breites Loch, das aussah, als hätte ein Riese es mit der Faust zertrümmert. Die ausgebrochenen Steine erzeugten weit ausgebreitet davor ein unregelmäßiges Muster. Raben flatterten in den Ruinen, bildeten an vielen Stellen dichte Gruppen am Boden.
Francis legte das Gewehr an, um durch das Zielfernrohr einen genaueren Blick zu haben. Ein kalter Schauer jagte über den Rücken. Die Vögel hackten auf Leichen herum, die zwischen den Trümmern lagen. Manche hielten noch das Schwert in der Hand, andere hingen in bizarren Positionen an Resten von Viehtränken oder streckten verkohlte Arme in den Himmel. An der Außenseite des ersten Mauerwerks sah Francis Frauen liegen. Man hätte sie für Schlafende halten können. Die Oberkörper lehnten an der Mauer, doch die Köpfe waren zur Seite gekippt. Kinder und Babys lagen daneben. Raben landeten bei ihnen, hüpften näher.
Francis wandte sich ab. Sein Magen rebellierte, die Übelkeit wollte nach oben. Er begann zu würgen. Mit ruhigem Atmen versuchte Francis es wieder unter Kontrolle zu bekommen. Jane hingegen starrte scheinbar gelassen durch ihr Fernglas.
„Das ist der Unterschied zwischen einem trockenen Satz im Geschichtsbuch und der Realität. So sieht es aus, wenn dauernd irgendwelche Leute umgebracht werden.“
Francis verzichtete auf eine Erwiderung, obwohl er sich für seine gestern so salopp gesprochene Bemerkung schämte. Jane hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Wieso reagierte sie so gelassen auf die Situation? Was hatte sie bisher erlebt?
Jane sah zu Galam. „Sie haben die Frauen und Kinder ebenfalls getötet!“
Der junge Mann schwieg, betrachtete die andere Seite. Doch außer einer Wiese gab es dort nichts zu sehen. Die Angreifer schienen weit weg zu sein. Trotz der modernen Waffen war Francis darüber erleichtert. Grauen lag in der Luft. Es kroch heran, in kleinen Schritten.
„Das macht die Sache kompliziert“, lautete Galams Antwort nach einer langen Pause. Francis konnte mit der Anspielung wenig anfangen. Warum sollte jemand Frauen und Kinder verschonen? Nächstenliebe? Kaum anzunehmen. Jane klärte ihn auf.
„Frauen im gebärfähigen Alter sind ein Vermögen wert, ebenso gesunde Kinder. Auf einem Bauernhof wird jede helfende Sklavenhand gebraucht, es gibt viele potentielle Käufer. Das Töten von Kriegern ist normal, doch Frauen und ihren Nachwuchs kann man für einen guten Preis als Sklavinnen verkaufen. Sie umzubringen ist Quatsch.“
„Dann waren die Angreifer wohl besonders brutale Typen“, vermutete Francis.
Jane schüttelte energisch den Kopf. „Man überfällt in diesem Jahrhundert niemanden aus Spaß, sondern wegen der Beute. Junge Frauen zu ermorden ist neben der Brutalität ökonomischer Schwachsinn. Das wäre übertragen auf unsere Zeit das Verbrennen der Geldscheine eines Banküberfalls am Lagerfeuer. Wer ist doof genug dafür?“
„Gibt es tote Tiere?“, fragte Galam plötzlich.
Jane hob erneut das Fernglas an und gab eine negative Antwort. „Sie wurden gestohlen. Das ist merkwürdig.“
Sie stand auf, ging in gebückter Stellung zurück zu den Pferden. Galam schloss sich ihr ohne Worte an. Francis konnte den raschen Rückzug nicht nachvollziehen. Es waren noch viele Fragen offen.
„Wieso hauen wir jetzt ab? Erst erzähltet ihr mir davon, dass angeblich alles kompliziert sei. Doch nun verfügen wir mit dem geraubten Vieh über das Motiv für den Überfall, den Wunsch nach Beute.“
Galam verstaute sein Gewehr in dem Lederbeutel, während Jane die Zügel der Pferde löste. Anschließend streckte sie Francis auffordernd die Hand entgegen, verlangte seine Schusswaffe. Widerwillig händigte er sie aus.
„Könnte mir jemand ...“
„Es ist kein klassisches Motiv!“, widersprach Jane mit ernster Miene. „Sie haben die Frauen getötet, aber das Vieh mitgenommen. Das Verhalten ist widersprüchlich. Es macht keinerlei Sinn, aber unter Berücksichtigung weiterer Möglichkeiten durchaus. Das ist meine Herausforderung.“ Sie warf Galam einen vielsagenden Blick zu. „Ich muss eine harte Entscheidung treffen!“
„Das Orakel?“, erkundigte sich der junge Mann.
„Es gibt kaum Alternativen.“
Francis verstand nichts. Was sollte das Geschwafel? Entscheidungen traf man nach gründlicher Überlegung. Orakel? Was bedeutete der Unsinn? Jane lachte für einen Moment, als sie das Gesicht von Francis sah, wurde dann aber wieder ernst.
„Es ist natürlich kein echtes Orakel, ich nenne ihn lediglich so. Es ist in Wahrheit ein alter Mann, er heißt Jeremiah und lebt in der Nähe in einer kleinen Hütte. Er stammt aus unserer Zeit und befindet sich schon seit etwa fünfzehn Jahren in diesem Jahrhundert. Früher sammelte er die ersten Kinder für die Organisation und seinem Netzwerk an guten Kontakten kann man vertrauen. Sogar Häuptlinge gehen zu ihm und fragen nach Rat.“
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