Justin wollte gerade sagen, dass er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, dass ihm Frau Billig, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.
"Wird sie auch mitgehen?" fragte der arme Junge.
"Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen", sagte Herr Braun. Das war kein sonderlicher Trost für Justin. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu haben, als verließe er Frau Billig nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlich überstandene Misshandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Justin sehr natürlich. Frau Billig umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhaus ankäme. Unnötig zu sagen, dass ihm das Butterbrot lieber war als die tausend Umarmungen der Frau Billig. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf verließ nun Justin die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte. Herr Braun holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Junge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald "da" seien. Justin war noch keine Viertelstunde im Armenhaus und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Braun ihm sagte, dass heute Abend eine Vorstandssitzung sei, und dass er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe. Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Justin nicht besonders klar. Er wusste deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Braun führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl,der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesicht breit.
"Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!" sagte Braun, und Justin tat es.
"Wie heißt du, Junge?" fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.
Der Anblick so vieler Herren brachte Justin so aus der Fassung, dass er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.
"Junge!" sagte der Vorsitzende, "du weißt doch, dass du eine Waise bist?"
"Was ist das?" fragte der arme Kerl.
"Du weißt doch, dass du keinen Vater und keine Mutter hast und dass du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?"
"Jawohl, Herr", erwiderte Justin, bitterlich weinend.
"Warum heulst du?" fragte ein Herr mit einer grünen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.
"Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt", fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.
"Ja, Herr", stotterte der Junge.
"Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst", sagte der Vorsitzende.
"Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, und Kraut zupfen", fügte der Herr mit der grünen Weste hinzu. Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Justin auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.
Armer Justin! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, dass jene Männer am selben Tage einen Entschluss gefasst hatten, der den größten Einfluss auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden. Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, dass es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten -, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit. "Oho", sagten die Gemeinderäte, "das muss anders werden, und zwar sofort." Sie setzten daher als Richtlinie fest, dass die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel. Schon in den ersten sechs Monaten nach Justins Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren. Kinder haben fast immer Hunger. Justin und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Justin Hoppa. Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Justin aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte: "Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr."
Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blass und musste sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus:
"Was?"
"Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!"
Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Justin bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener. Der Verwaltungsausschuss hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Braun aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:
"Verzeihung, Herr Labskaus! Justin Hoppa hat mehr haben wollen!"
Alle waren starr.
"Mehr?" fragte Herr Labskaus. "Nehmen Sie sich zusammen, Braun, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, dass er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?"
"Jawohl, Herr!"
"Der Junge wird am Galgen enden", sagte der Herr mit der grünen Weste. "Ich bin ganz sicher, dass der Bursche dereinst gehängt wird!"
Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Justin eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Justin der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Justin Hoppa wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau - wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.
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