Knappe fünf Minuten später erreichen die drei Kollegen die Bushaltestelle. Matthäus blickt auf den Fahrplan und dann auf seine hochwertige Armbanduhr. Zufrieden nickt er.
„In zwei Minuten fährt bereits der nächste Bus nach Roskilde ab“, klärt er die anderen kompetent auf. Und tatsächlich: Kaum hat Matthäus ausgesprochen, da entdeckt Cordula, wie der Bus in einiger Entfernung um die Ecke biegt. Karl ist darüber sehr froh. Gleich kann er endlich wieder in Ruhe sitzen. Der Bus hält an und die Tür öffnet sich. Matthäus, Cordula und Karl sind die einzigen Fahrgäste, die hier einsteigen wollen. Einige Leute sitzen aber schon im Inneren des Busses.
Matthäus geht zielstrebig auf den Busfahrer zu, sagt laut und deutlich: „Roskilde“, hält dem Fahrer dazu drei Finger vor die Nase und zeigt zunächst auf sich und dann auf seine beiden Kollegen, die hinter ihm stehen und freundlich nicken. Der Busfahrer versteht sofort und nennt einen Preis.
Zufrieden über seine geglückte Kommunikation kramt Matthäus in seinen Taschen nach seinem Portemonnaie. Doch er kann es nicht finden. Das Portemonnaie befindet sich nämlich noch in der Tasche seiner Hose, die er beim Frühstück getragen hatte. Als Matthäus sich vorhin umgezogen hat, hat er seine Geldbörse in der Aufregung vergessen. Matthäus kann nur inständig hoffen, dass niemand während seiner Abwesenheit widerrechtlich in sein Zimmer eindringen wird. Da Matthäus die Tickets nicht bezahlen kann, blickt er auffordernd zu Karl.
„Streck du doch erst mal vor, Karl!“, verlangt er nachdrücklich. Gehorsam holt Karl ein paar Scheine aus seiner Geldbörse und reicht sie dem Busfahrer. Dieser nimmt das Geld entgegen, nickt und händigt Matthäus drei Tickets aus.
Cordula, die sich bislang im Hintergrund gehalten hat, hat derweil ein ganz anderes Problem: Aufgeregt durchsucht sie ihre Umhängetasche, denn sie vermisst ihren Fotoapparat. Leider verläuft die Suche ohne Erfolg. Vermutlich hat sie das Gerät bei sich im Zimmer im Hostel vergessen. Wie von der Tarantel gestochen stürmt Cordula hervor zum Busfahrer und schiebt dabei ihre beiden Kollegen energisch zur Seite.
„Moment, Moment!“, ruft sie in bestimmtem Ton zum Busfahrer und hebt mahnend den Zeigefinger in die Höhe. Dann wendet sie sich Matthäus und Karl zu. „Ich habe meinen Fotoapparat im Hostel vergessen. Ich gehe ihn schnell holen. In spätestens zehn Minuten bin ich wieder hier. Haltet bloß solange den Bus auf“, fordert sie ungewohnt streng und durchgreifend. Normalerweise ist Cordula ja eher genügsam und unkompliziert, aber wenn es um ihren Fotoapparat geht, dann versteht sie keinen Spaß. Cordula wirft dem Busfahrer und ihren beiden Kollegen noch einen beschwörenden Blick zu. Dann stürmt sie nach draußen und schlägt den direkten Weg zurück zum Hostel ein.
Matthäus und Karl sehen ihrer Kollegin perplex hinterher. Der Busfahrer hingegen schließt unbekümmert die Tür und setzt dazu an loszufahren. Aber Matthäus und Karl müssen ihn ja aufhalten.
„Halt, das geht doch …“, versucht es zunächst Karl, wird dann aber von Matthäus unterbrochen.
„Lass mich mal. Ich habe doch mein dänisches Wörterbuch dabei. Ich schaff das schon. Schließlich bin ich – wie dir spätestens seit gestern Mittag bekannt ist – ein Verhandlungsgenie. Setz dich ruhig schon mal hin und halte uns gute Plätze frei. Ich komme gleich nach“, erklärt er einleuchtend, woraufhin Karl überzeugt drei freie Sitzplätze sucht.
In der Zwischenzeit hat der Busfahrer den Wagen schon gestartet. Matthäus beugt sich zu ihm herüber und wedelt ihm mit beiden Händen vor dem Gesicht herum. Er deutet wild gestikulierend nach draußen, dorthin, wo Cordula eben verschwunden ist, und dann auf sich und sein Wörterbuch. Irritiert blickt der Fahrer zu dem herumhampelnden Matthäus. Dieser blättert bereits hektisch in seinem Wörterbuch. Er sucht die dänische Übersetzung für ‚warten‘. Da hat er sie gefunden.
„Vente“, sagt er zum Busfahrer und blättert währenddessen weiter. „Skulle vente“, fordert er eindringlich, was ‚müssen warten‘ bedeutet.
Der Busfahrer ist jedoch nicht daran interessiert, die Unterhaltung mit Matthäus fortzuführen. Desinteressiert wendet er sich ab und will entgegen Matthäus' Aufforderung trotzdem losfahren. Dieser wiederum meldet sich umso lauter zu Wort und deutet erneut nach draußen durch die Tür.
„Cordula!“, brüllt er und der Busfahrer öffnet die Tür und weist Matthäus den Weg nach draußen, da er annimmt, dieser wolle nur den Bus wieder verlassen. Er ist ziemlich entnervt und überfordert.
„Ney“, sagt Matthäus, was ‚Nein‘ bedeutet. „Ney, skulle vente Cordula!“
Jetzt ist Matthäus sich ganz sicher, dass der Busfahrer ihn verstanden hat, denn dieser schließt die Tür und nickt Matthäus zustimmend zu.
„Skulle vente Cordula“, sagt Matthäus noch einmal in aller Deutlichkeit. Wieder nickt der Busfahrer und deutet mit süßsaurem Lächeln hinter sich in den Bus hinein. Er möchte einfach nur Matthäus loswerden, um endlich seine Fahrt fortsetzen zu können – wie, das ist ihm ganz egal.
Matthäus hingegen ist der Ansicht, der Busfahrer habe durch sein Nicken Zustimmung und Einsicht bekundet. Deshalb nickt auch er dem Busfahrer anerkennend zu und geht durch den Bus nach hinten. Dort hat Karl zwei Sitzplätze für seine Kollegen reserviert. Zufrieden lässt sich Matthäus auf dem Platz Karl gegenüber nieder.
„Der hat mich verstanden“, sagt Matthäus zuversichtlich. „Der Busfahrer war zwar etwas begriffsstutzig, aber mit meiner Genialität und Überzeugungskraft habe ich ihn schließlich umgestimmt. Siehst du, Karl? Es kann nie schaden, ein dänisches Wörterbuch dabeizuhaben – besonders, wenn man nach Dänemark reist. Und außerdem muss man sich durchsetzen können. Jawohl! In manchen Situationen ist es einfach geboten, dass man die Samthandschuhe auszieht und rigoros durchgreift. Du, Karl, hast da noch ein wenig Nachholbedarf. Aber du hast ja mitbekommen, wie ich das gemacht habe, und hiervon kannst du ja lernen. Der Busfahrer wird jetzt warten, bis Cordula hier ist. Das …“
Bislang hat Karl seinem Kollegen aufmerksam zugehört. Nun jedoch muss er Matthäus leider unterbrechen. Denn während seinen langen Ausführungen ist Matthäus entgangen, dass der Bus bereits abgefahren ist.
„Ähm, ich fürchte, du hast das wohl nicht so richtig gut gemacht, Matthäus. Der Bus fährt“, macht Karl seinen Kollegen zaghaft und vorsichtig, um ihn ja nicht zu kränken, auf diesen Umstand aufmerksam.
„Was?“, ruft Matthäus entsetzt. „Unverschämtheit!“
Er stürmt nach vorne zum Busfahrer und versucht, diesen durch wilde Gestikulation zum Anhalten zu bewegen. Doch der Busfahrer reagiert gar nicht und fährt stur weiter.
„Skulle vente Cordula!“, brüllt Matthäus so laut er kann, aber der Busfahrer zeigt keine Regung. Fast hätte Matthäus versucht, an dem Fahrer vorbei nach dem Lenkrad zu greifen, um selber den Bus in eine andere Richtung zu lenken. Aber nach einem Blick auf das hohe Verkehrsaufkommen hier im Kopenhagener Stadtzentrum unterlässt er das lieber doch. Resigniert geht Matthäus zurück zu Karl, der gerade in völliger Ruhe das erste von seinen soeben geschmierten Brötchen genüsslich verspeist. Karl hat vollstes Verständnis für den Busfahrer. Schließlich ist es selbstverständlich, dass dieser an der Bushaltestelle keine zehn Minuten auf Cordula warten kann, zumal er ansonsten zu allen folgenden Haltestellen zu spät käme. Matthäus hingegen denkt so weit nicht.
„Das darf doch alles nicht wahr sein!“, echauffiert er sich aufgebracht. „Ich werde Cordula jetzt anrufen.“
Matthäus kramt in seiner Manteltasche und holt sein Handy hervor. Er möchte Cordula informieren, dass er und Karl zum Wikingermuseum durchführen und Cordula mit dem nächsten Bus hinterherfahren solle. Nur leider muss Matthäus mit einem Blick auf das Display feststellen, dass der Akku leer ist.
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