Also ging er zu seinem Käfer zurück und legte sich auf die Lauer. Irgendwann musste sie das Haus betreten oder verlassen und dann würde er seine Chance bekommen. Betört von ihrem Foto und dem Duft des Frühlings, der aus den Vorgärten durch das heruntergekurbelte Wagenfenster hereinströmte, malte er sich das erste Rendezvous aus. Irgendwann aber vergaß er, die Dark side of the moon Kassette zurückzuspulen und döste ein.
Ein Trommelwirbel auf dem Wagendach holte ihn aus seinem Schlummer. Das Grollen der Tigerin kam aus dem Nichts: »Gelungenes Foto.« Er zuckte zusammen, stieß sich beim Hochschnellen das Knie am Lenkrad und als er endlich begriff, was geschehen war, sah er nur noch, wie sie im Windfang der Villa verschwand.
Es begann ein Katz-und-Maus-Spiel, das vier weitere Tage dauerte; vier Tage, in denen sie sich beharrlich weigerte, ihn anzuhören; vier Tage, in denen er seine Arbeit vernachlässigte und im Stehen an einer Litfaßsäule schlief, nur um sie zu sehen, wenn sie morgens das Haus verließ, in der Mittagspause einkaufen ging oder am späten Nachmittag den Friseur aufsuchte; vier Tage im Dunst des eigenen Schweißes, gelebt als Schatten; vier Tage, in denen er das Martyrium aller verliebten Männer teilte und seine geistige Existenz allmählich erlosch.
Er begann zu resignieren und sich einzugestehen, dass er sich selbst zum Affen machte. Er war bereit aufzugeben. Ein paar Stunden noch, vielleicht einen Tag, wollte er an seinen Traum glauben. Und dann geschah das nicht mehr Erwartete; es geschah so unerwartet, dass er es erst glaubte, als sie tatsächlich zur verabredeten Zeit vor der Villa in der Dachsstraße auftauchte und zu ihm in den Wagen stieg.
Warum sie ausgerechnet dieser Einladung gefolgt war, blieb ihm ein Rätsel. Aber nun saß sie neben ihm, wenn auch stumm und unnahbar schön, doch nahe genug, dass er sie hätte berühren können.
Während der Fahrt zur Galerie Sandrock , wo eine Fotoausstellung von Andreas Feininger eröffnet wurde, verschmolzen seine Sinne mit ihrem Parfüm. Er musste nichts sagen, durfte schweigen wie sie, und seltsamerweise machte ihn das glücklich, ihn, den sonst so lockeren Plauderer.
Interessiert und augenscheinlich beeindruckt wandelte sie von Aufnahme zu Aufnahme. Das Faschingsgirl schien sie besonders zu fesseln, denn sie kehrte mehrmals zu diesem Foto zurück.
Als sie sich schließlich am Büfett gegenüberstanden, nur getrennt von zwei gläsernen Schalen, in denen frische Erdbeeren unter einer Haube cremiger Sahne lockten, da war sie es, die wie selbstverständlich zu sprechen begann.
»Es scheint, als hätte ich mich tatsächlich in dir getäuscht«, sagte sie. »Und ich finde, da wir nun einmal beim Du angelangt sind, sollte dieses auch einen Namen bekommen. Renate. Renate Danziger.«
Er hing an ihren Lippen und saugte das Grollen seiner Tigerin auf, fast bedauernd, dass sie nun einen Namen bekommen hatte. Unsicher ergriff er ihre Hand. War es möglich, dass plötzlich alles so einfach sein sollte?
»Und was ist mit dir? Erschüttert? Neulich beim Rathaus warst du nicht so zurückhaltend.«
»Ich muss gestehen, dass du mich diesmal überrumpelt hast«, sagte er.
»Und?«
»Ach ja! Arno Sperling.«
»Sperling? Seltsam ... Dass dieser Name so häufig auftaucht, hätte ich nicht gedacht.«
In dem nachfolgenden Plausch über die Ästhetik von Feiningers Fotografien, die, wie sie übereinstimmend meinten, weniger vom Gefühl als vielmehr vom Intellekt bestimmt waren, stellte sich zu ihrem beiderseitigen Erstaunen heraus, dass sie im selben Provinzstädtchen zur Schule gegangen waren.
»Aber du bist mir damals leider nicht aufgefallen«, sagte er.
»Mich wundert das nicht. Ich glaube, ich war ein ziemliches Mauerblümchen. Und außerdem zu jung. Aber an dich kann ich mich recht gut erinnern, zumindest an deinen Namen, der wurde häufig genannt.«
»Mein Ruhm war eher zweifelhaft.«
»Trotzdem hat man dich dort nicht vergessen. Erst kürzlich hat mich jemand gefragt, ob ich dir hier vielleicht einmal begegnet sei.«
»Schwer vorstellbar. Hast du noch Verbindungen nach Schönfeld?«
»Meine Eltern leben dort. Mein Vater war acht Jahre lang Pfarrer in Schönfeld. Später wurde er zwar Dekan, aber Mutter wollte keinen Umzug.«
»Schönfeld. Es kommt mir so unwahrscheinlich vor, wie aus einem anderen Leben.«
»Und gerade ist es dabei, uns einzuholen«, sagte sie. »Sie schien dich übrigens gut zu kennen.«
»Sie?«
»Hanna Schiller. Früher hieß sie Gerber. Sie sagte, ihr hättet gemeinsam fürs Abitur gebüffelt.«
»Hanna! Die Geschichte wird immer erstaunlicher.« Arno lachte, aber eine Gänsehaut lief ihm dabei über den Rücken. »Hanna ... Du kennst sie und bist ihr begegnet?«
»Ist dir das unangenehm?«
»Nein«, sagte er, »nein.«
Aber sein Nein kam zu spontan, um glaubwürdig zu klingen. Er spürte, dass sie das bemerkte, doch sie ging nicht weiter darauf ein und dafür war er ihr dankbar. Auch das bemerkte sie und dann lachten sie beide, um die Verlegenheit zu überspielen und um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken.
Später, beim Schaufensterbummel durch die Fußgängerzone, flanierten sie eingehakt wie ein Liebespaar. Arno genoss die Nähe seiner Tigerin und ließ sich bereitwillig vom Strudel seiner Gefühle forttragen. Dass sie Hanna kannte, damit würde er leben können. Ihren Namen zu hören, kam ihm vor wie ein Wink aus einer anderen Zeit, mit der er längst abgeschlossen hatte. Was zählte, war das Jetzt. Und jetzt wollte er glücklich sein und den Lohn für die vier schlaflosen Nächte auskosten, den er sich unter dem Fenster dieser Frau, deren Arm nun tatsächlich in seinem lag, erträumt hatte.
Es schien, als hätte er nicht zu Unrecht geträumt, denn am nächsten Abend, als er sie von der Strumpffabrik abholte und nach Hause fuhr, verabschiedete sie ihn nicht an der Tür. Zweifellos hatte sie sich wegen seiner Beharrlichkeit schließlich doch auf ihn eingelassen, von nun an aber bestimmte sie Richtung und Tempo des gemeinsamen Weges und das tat sie derart entschlossen, dass ihm manchmal schwindlig wurde. Sie überfraute ihn mit einer Sinnlichkeit, die ihm bei jedem Einschlafen und Aufwachen in ihren Armen ein weiteres Stück seiner Vernunft raubte. Trunken vor Glück zappelte er in den Fäden, in die sie ihn einwebte. Sein scharfes, sezierendes Auge, der Blick des Fotografen, auf den er so stolz war, wurde von schmachtender Gefühlsduselei getrübt, als hätte er einen Weichzeichner vor das Objektiv geschraubt. Nur so war es zu erklären, dass er sich trotz seiner Abneigung gegen alles, was mit Familie oder Verwandtschaft zu tun hatte, bereits zwei Wochen später mit zu ihren Eltern nach Schönfeld schleppen ließ.
Die scheinheiligen Nebensätze des Kirchenmannes bei der verklemmten Begrüßung und während des Gastmahls bestätigten seine Befürchtungen.
»Journalist sind Sie also. Nein? Fotoreporter. Na ja, irgendwer muss ja schließlich die Bilder machen.«
Wie ein Diplomat reihte der Dekan einen ganzen Katalog subtiler Fußnoten aneinander, deren Fazit das professionell freundliche Spiel seiner rhetorisch geübten Lippen nicht vertuschen konnte: Gemeinsame Schulzeit und große Gefühle, alles schön und gut, aber seine Tochter sei doch wohl noch viel zu jung für eine derartige Bindung.
Was soll das unchristliche Geschwafel? Deine Tochter ist einundzwanzig, du Hinterwäldler, dachte Arno. Außerdem hatte weder er noch Renate von irgendeiner »Bindung«, wie sie scheinbar bereits in der Phantasie des Pfaffen herumspukte, gesprochen.
Zuallererst müsse sie an die eigene Karriere denken. Die Buchhaltung einer Strumpffabrik könne ja wohl nur eine Zwischenstation sein. Habe er ihr nicht immer empfohlen, zumal nach ihrem ausgezeichneten Abitur, ihre Zeit nicht an eine kaufmännische Ausbildung zu verschwenden? Und so weiter. Die Sätze des Dekans erinnerten Arno auf fatale Weise an die Vorträge, die der Sheriff jahrelang im Familienkreis heruntergebetet hatte.
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