Ein hektisches Durcheinader riss Lücken in die Reihen der Kundgebungsteilnehmer. Spitze Schreie hallten über den Platz. Alles rannte planlos umher auf der Suche nach Zuflucht in Haus- und Ladeneingängen, Kiosken, Bus- und Straßenbahnhaltestellen. Selbst die öffentliche Bedürfnisanstalt war binnen Sekunden überfüllt und unter dem rotweiß gestreiften Baldachin, der vom Rathausportal weit über den oberen Teil der Treppe hinausragte, drängelten sich Scharen von Schutzsuchenden.
Arno wickelte die Kamera in seine Jacke und sprintete die Treppe hinauf, vorbei an einer jungen Frau, die katzbuckelnd auf dem obersten Absatz der Treppe kauerte. Ihre kastanienbraunen Haare klebten wie frisch lackiertes Lametta an Kopf und Schultern. Das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, beobachtete sie das Tohuwabohu, das der Wolkenbruch auf dem Platz anrichtete.
Noch bevor er die Menschentraube unter dem Baldachin erreichte, vergaß er den Regen, zog die Kamera aus dem Jackenbündel und fokussierte das Objektiv: gerade, kurze Nase; weich geschwungene Lippen, leicht geöffnet, wie ein zerbrochenes Herz, aus dem ein feines Lippenstiftgerinnsel blutete; braune Augen unter präzise gezupften Brauen; rundliches Puppengesicht. Die Augen stehen vielleicht eine Spur zu weit auseinander, dachte er, den Finger am Auslöser, als die junge Frau ihm plötzlich das Gesicht zuwandte und das Objektiv fragend anstarrte. Ihr Mienenspiel verwandelte sich von nachdenklich über lächelnd zu ratlos, die Nasenflügel bebten einen Moment lang und zwischen den Augenbrauen züngelten winzige Schlangen. Dann stand sie auf. Wassertropfen sprühten aus ihrem Haar, wie bei einem Hund, der sich nach dem Schwimmen das Fell trocknet. Er fotografierte, bis sie zwei Schritte entfernt vor ihm stehen blieb.
»Was tun Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, mich ungefragt zu fotografieren?«
Ihre kehlige Altstimme klang trotz erhöhter Frequenz melodiös, was ihn veranlasste, sein unwiderstehlichstes Lächeln aufzusetzen. Er hoffte zumindest, dass es unwiderstehlich wirkte. »Verzeihen Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht belästigen. Sie waren der einzige Ruhepunkt in dem heillosen Durcheinander, ein faszinierendes Motiv. Sorry.«
»Typisch Springerpresse!«, fauchte sie, unbeeindruckt von seiner Schmeichelei. »Geilt es euch auf, wenn ihr jemanden bloßstellen könnt? Stimmt die Kasse? Und die Bullen kriegen selbstverständlich Abzüge für ihre Kartei. Scheißkerle seid ihr, allesamt!«
Dann brach ihr Redeschwall ab, als sei sie plötzlich selbst erschrocken über den unsinnigen Erguss von Vorwürfen, mit dem sie ihn gerade traktiert hatte. Gleichzeitig trat sie dicht an ihn heran, denn sie hatte bemerkt, dass das schadenfrohe Interesse der meisten Umstehenden auf einmal nicht mehr dem Treiben auf dem Rathausplatz, sondern ihr galt. Sie sprach leiser, fast flüsternd, und Arno war versucht, die Augen zu schließen, damit das schnurrende Grollen der Tigerin nicht durch visuelle Widersprüche beeinträchtigt wurde.
Später sollte er sagen, dass dies der Augenblick gewesen war, in dem er sich in sie verliebte. Damals allerdings dachte er nur: Warum gerate ich bloß immer an diese zickigen Töchter aus vermeintlich gutem Hause?
»Sie werden sich gewiss eine Erkältung oder Schlimmeres einfangen, wenn Sie nicht bald ein heißes Bad und etwas Trockenes auf die Haut bekommen«, sagte er besänftigend.
»Dann ist es meine Erkältung! Ganz allein meine ! Und ich finde es bezeichnend für Leute Ihres Schlages, dass Sie sich in Phrasen flüchten, um von Ihrem miesen Verhalten abzulenken.«
»Soll ich nicht doch lieber ein Taxi rufen, das Sie nach Hause bringt? Vielleicht können wir uns ein andermal über mein Verhalten und meinen Beruf und alles andere streiten.«
Sie schwieg irritiert und fixierte ihn unschlüssig, wobei ihre Augen, wie er fand, mit jedem Wimpernschlag schöner wurden. Er hielt es für ein Zeichen ihres abklingenden Zorns.
»Nicht weglaufen, bitte! Bin sofort wieder da. Versprochen?«
Bevor sie ihn mit weiteren Rüffeln überhäufen konnte, machte er auf dem Absatz kehrt und zwängte sich unter Einsatz seiner Ellenbogen und Männlein wie Weiblein versehentlich auf die Füße tretend zur Rathaustür.
Die drei Telefonkabinen in der Eingangshalle befanden sich im Belagerungszustand. Dicht vor der linken entdeckte er Hübner. Er schob sich zu ihm hin, legte ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter und sagte: »Du lässt mich vor, ja? Ein Notfall.«
»Wo treibst du dich denn rum? Hast du wenigstens die Bilder im Kasten?«
»Bilder? Na klar! Aber jetzt bin ich an etwas Wichtigerem dran.«
»Ein Notfall. Du sagtest es bereits.«
Ohne Hübners Zustimmung abzuwarten, schlüpfte er durch die sich gerade öffnende Tür in die Zelle hinein.
Während er in seinen Hosentaschen nach Münzen suchte, sah er aus den Augenwinkeln, wie Hübner beschwichtigend auf ein Gift und Galle speiendes Frauenzimmer einredete und sie nur mit Mühe davon abhalten konnte, in die Kabine einzudringen. Beim zweiten Versuch war die Leitung frei und am anderen Ende bestätigte eine gestresste Frauenstimme, dass er mit der Taxizentrale verbunden sei, dass er sich aber etwas gedulden müsse, da alle in Rathausnähe plazierten Wagen unterwegs seien.
»Danke für Ihr Verständnis, Lady«, sagte er, als er die Zelle verließ. Er warf der noch immer lamentierenden Dame einen Handkuss zu und klopfte Hübner dankbar auf die Schulter. »Ist wirklich ’ne große Sache. Du hast etwas gut bei mir.«
Wider Erwarten stand sein Traummotiv noch am gleichen Fleck.
»Und nun?«, fragte sie.
»Das Taxi ist unterwegs«, strahlte er.
»Ich will kein Taxi! Und von Ihnen schon gar nicht, ich ...«
»Aber, aber ... Ich dachte dieser Punkt sei inzwischen geklärt. Benehmen Sie sich doch nicht wie eine neunjährige Göre.«
Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf, wandte sich zur Treppe und trat in den nur noch nieselnden Regen hinaus.
Arno schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel - und das Wunder geschah: Aus der Friedrich-Ebert-Straße bog ein Taxi in den Rathausplatz ein. Er griff nach der Hand seines Schützlings und nahm zwei Stufen auf einmal. Sie tat überrascht, ließ sich aber widerstandslos von ihm führen. Als sie neben dem Taxi standen, riss sie sich los und schlug ihm die tiefe Empörung, die jetzt wieder aus ihren Augenschlitzen blitzte, ins Gesicht.
Triumphaler Abgang, dachte er, während seine Zunge die anschwellende Unterlippe abtastete und das Taxi am anderen Ende des Rathausplatzes in der Schumannstraße verschwand.
Noch am gleichen Abend entwickelte er den Film und fertigte eine Ausschnittvergrößerung ihres Gesichts an. Er hatte sich die Nummer des Taxis gemerkt. Mit dem Foto und zwei Zwanzigern entlockte er am nächsten Morgen dem Chauffeur die Adresse der Tigerin. Ein treffenderer Name war ihm während der halb durchwachten Nacht, umgeben von ihren Fotografien, nicht eingefallen.
Er fuhr mehrmals die Dachsstraße rauf und runter, ehe er die am Rande des Stresemannparks hinter frisch austreibendem Gebüsch und knorrigen Eichen verborgene Villa aus der Gründerzeit entdeckte.
Vornehm lebt die Dame, dachte er, als er die breiten, oval geschwungenen Stufen der Sandsteintreppe hinaufstieg und den tunnelähnlichen Windfang betrat, in dessen rechter Ziegelsteinwand vier Briefkästen und Klingeltasten in eine Bronzeplatte eingelassen waren. Seine erste Befürchtung, dass er die Namen eines alteingesessenen Clans dort aufgereiht vorfinden würde, bestätigte sich nicht. Die Namensschilder ließen keine familiären Verbindungen erkennen: Dr. A. Walser, M. Grünstein, Leitner und R. Danziger.
Er versuchte zu erraten, hinter welchem Namen sich seine Tigerin verbarg, kam jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis und drückte deshalb kurzentschlossen auf eine der Klingeltasten. Ohne Erfolg. Im Haus blieb es still und insgeheim war er froh darüber, denn während er noch dem in der Tiefe des Gemäuers versickernden Klang der Hausglocke nachlauschte, erschreckte ihn der Gedanke, dass er vielleicht in wenigen Augenblicken irgendeinem distinguierten Mütterchen sein Begehren vortragen müsse. Wahrscheinlich würde er dann stottern wie ein Pennäler, würde dummes Zeug faseln von einer Tigerin, in die er sich gestern, inmitten eines Wolkenbruchs, verliebt hatte. Unmöglich! Nein, er musste ihr in die Augen sehen können, dann war es gleichgültig, wenn er Unsinn stammelte. Sie würde es verstehen. Nach den Tänzen der vergangenen Nacht, mit ihren Fotos im Arm, musste sie es verstehen, das erschien ihm logisch, obwohl sie nichts davon wissen konnte, sie, die ihn womöglich - er wagte es nicht zu denken - gleichzeitig mit der Ohrfeige aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.
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