1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Am Abend schwebten beide, sichtlich der Stolz unserer Tanzlehrerin, über das Parkett im Kleinschmidtschen Ballsaal. In den Tanzpausen aber, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, verschwanden sie nach draußen, bis die ersten Takte der Kapelle sie zurückriefen. Einmal allerdings blieben sie der Tanzfläche für eine längere Zeit fern. Aber das bemerkten nur wenige, denn inzwischen hatten Musik und Alkohol die formale Etikette soweit gelockert, dass die Aufmerksamkeit der Gäste nicht mehr allein auf Hanna und Arno ruhte.
Meine Eltern drängten zum Aufbruch. Sie verabschiedeten sich gerade unter lautem Hallo und mir unvertrautem Gelächter von ihren Tischnachbarn, als ich Arno entdeckte. Er klopfte Peter dankbar auf die Schulter und ließ einen Schlüsselbund in dessen Jacketttasche verschwinden, der mir wegen seines vergoldeten, in Form einer Acht gebogenen Ringes sehr vertraut vorkam: An diesem Ring baumelte der Schlüssel unseres Kellers, unserer zweiten Heimat. Ich spürte, wie ein Gemisch aus Bewunderung und Neid in mir aufstieg.
Pünktchen schien Arno in jeder Beziehung gut zu tun, denn es war gewiss kein Zufall, dass sich der Zeitpunkt, an dem seine schulische Leistungskurve anzusteigen begann, eindeutig auf die Tage nach diesem Abschlussball datieren ließ.
Zur Freude und Genesung meiner geplagten Mutter fand auch ich zu alter Form zurück. Unsere Meetings in Kleinschmidts Keller hielten wir nun nicht mehr täglich ab, sondern nur noch mittwochs, samstags und sonntags und nun waren auch junge Damen dabei, von unseren Prahlereien beim Tanzkurs angelockt. Am wohlsten aber fühlten wir uns nach wie vor, wenn wir Burschen unter uns waren, allein mit dem Beat; laut und stampfend und schweißtreibend blieb er für lange Zeit - trotz aller Knutschereien und schmachtendem Bluestanzen - der wichtigste Bestandteil unserer Tage.
Das Heimchen und der Halunke hangelten sich bis zur schulischen Reife. Wir durchschauten uns und respektierten einander und ich denke, dass es dieser Respekt war, der eine tiefergehende Freundschaft verhinderte.
Zwei Monate vor den Abschlussprüfungen erhielten wir die Einberufungsbescheide zum Militär. Grund genug für ein spontanes Treffen in Peters Keller.
Nach den durchweg »positiven« Ergebnissen der Musterung hatten wir zwar alle damit gerechnet, dass Vater Staat uns nicht ungeschoren davonkommen lassen würde, doch bis zu diesem Tage hatten wir das Ganze mit einer geradezu überheblichen Lässigkeit von uns fern gehalten. Gehörten wir nicht alle zu einer Generation von Pazifisten, die fest entschlossen war, nach dem Ende der leidigen Penne den Lauf der Welt umzudirigieren? Wollten wir nicht alle aus Schwertern Pflugschare schmieden? Nein, eine solche Generation taugte nicht zur Waffenbrüderschaft! Häretiker, allesamt, deren hehres Gerede von Jimmy Hendrix’ Gitarrencrescendo All along the watchtower angestachelt wurde.
Nun aber, mit dem amtlichen Bescheid in den Händen, wurde uns mulmig. Krisensitzung. Die Mädchen blieben vor der Tür, und Peter bot mit finsterer Miene Zigaretten an. Er legte die neueste Stones-Scheibe auf, was in aller Regel ein bewährtes Rezept gegen jede Art von Frust gewesen war. Diesmal jedoch gelang es dem Midnight rambler nicht, frischen Wind in unsere verwirrten Gedanken zu blasen, die Stimmung blieb gedrückt. Wenn uns vorher jemand gesagt hätte, welche Macht von einem Stück Papier mit Siegel ausgehen kann, wir hätten ihn mit beißendem Spott überschüttet. Aber das wollte jetzt natürlich keiner zugeben, denn plötzlich war man ja selbst betroffen und das war eine über den Horizont unseres Kellers hinausgehende Erfahrung, mit der wir uns zunächst stumm grübelnd auseinander zu setzen versuchten.
Obwohl die Bassmembrane der Lautsprecher unter Charlie Watts Trommelwirbeln hektisch flatterten, fühlte ich mich wie in der Stille einbetoniert; sie war dichter als die Rauchschwaden, die wir aus unseren Lungen stießen. Irgendwann, der Diamant holperte längst unbeachtet am Ende der Plattenrille, sprang Arno auf und fauchte: »Nicht mit mir! Ich lasse mir den Gleichschritt nicht ins Hirn pflanzen!« Dann faltete er seinen Einberufungsbescheid langsam auseinander, hielt ihn hoch und zeigte ihn in die Runde, wie ein Magier vor einem unglaublichen Trick, und tatsächlich, plötzlich züngelte ein Flämmchen an einer Ecke des Papiers. Der Rebell war wieder erwacht und entzündete vor unseren Augen ein Fanal des Widerstandes.
In der gleichen Nacht verließ er sein Elternhaus.
Das Aufsehen, das sein Verschwinden erregte, war in Thalbach größer als bei uns in der Schule. Hier fragte kaum jemand nach dem Warum. Er war hinlänglich als Schlitzohr bekannt und daher hielt man es, nach einer längeren Periode der Selbstdisziplin, nur für eine neue Kapriole, auf die die Schulleitung zunächst nur mit einer schriftlichen Mahnung an die Eltern reagierte.
In Thalbach jedoch brachte Arnos Flucht die Familie Sperling ins Gerede, was bald dazu führte, dass sich die Sorge des Vaters um den Sohn in Zorn verwandelte. Dem Tratsch und Spott des Dorfes ausgesetzt zu sein, als offensichtlich hilflose Figur hingestellt zu werden, als einer, dem der eigene Filius auf dem Kopf herumtanzte, das war so ziemlich das Schlimmste, was Arno dem Sheriff hatte antun können.
Hans Sperling empfand es als Angriff auf seine persönliche Redlichkeit, dass der eigene Spross sich vor dem »Dienst fürs Vaterland« drücken wollte. Ein derartiges Untergraben seines Ansehens konnte er nicht akzeptieren, nicht, nachdem er sich all die Jahre krummgelegt hatte, um etwas auf die Beine zu stellen und seinem Namen eine gewisse Bedeutung zu verschaffen. Er beurlaubte sich eigenmächtig und ließ die Angelegenheiten des Bürgermeisteramtes während der endlosen Telefongespräche, die er hinter verschlossener Tür führte, ruhen. »Mach dir keine Sorgen, Margot, ich habe da so meine Verbindungen«, sagte er zu Arnos verängstigter Mutter, bevor er sich erneut in sein Heiligtum, einen schwarzen Opel-Kapitän mit Weißwandreifen, warf und mit nicht genanntem Ziel davonbrauste. Selbst eine Anzeige wegen Geschwindigkeitsüberschreitung tat er in dieser Situation als Lapalie ab.
Doch es dauerte acht Tage, bis seine Fahndungen tatsächlich erfolgreich waren. Nach dem x-ten Geheimtelefonat trat er mit unübersehbarem Funkeln in den Augen aus dem Büro, packte wortlos Rasierzeug und Zahnbürste ein und befahl seiner Frau, siegessicher lächelnd, ihn nach Schönfeld zum Bahnhof zu fahren. Dort löste er eine Rückfahrkarte zweiter Klasse nach Hamburg. Unweit des Hauptbahnhofs, in der Mönckebergstraße, spürte er Arno in einer Werbeagentur auf, wo er einem Modefotografen zur Hand ging und gerade damit beschäftigt war, Kameras, Kabel und Fotoleuchten in Kisten zu verpacken, die zum Zwecke von Aufnahmen für einen Versandhauskatalog nach Mallorca geflogen werden sollten.
»Wie ein verwundeter Stier stampfte und schnaubte er zwischen den Kisten herum«, berichtete Arno später in unserem Keller. »Aber von nun an überließ er nichts mehr dem Zufall. Zwar musste er zähneknirschend zusehen, wie ich den Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer stellte, zur Verhandlung beim Kreiswehrersatzamt führte er mich jedoch persönlich vor. Pausenlos, bis zum Verhandlungszimmer, schärfte er mir seine Moralvorstellungen ein und als ich schließlich so tat, als ob ich ihm zustimmte, unterstrich er seine Predigt mit einer Ohrfeige. Ihr wisst schon, nach dem bewährten Motto: Im rechten Moment ein paar Schläge zwischen die Hörner haben noch keinem geschadet.«
Wir kannten Arnos verbittertes Grinsen, wenn er über seinen Vater sprach. Doch jetzt hatte sich etwas daran verändert, jetzt verbarg dieses Grinsen nicht länger die tiefe Abneigung, die bisher unter der Bitterkeit geschwelt hatte.
Arno schlug nicht zurück. Er verabscheute Gewalt und er wollte den Stolz seines Vaters nicht noch weiter ramponieren. Den Prüfungsausschuss, dem die Szene auf dem Flur vorenthalten blieb, beeindruckte er mit seiner Gewaltlosigkeit allerdings nicht.
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