Arno lächelte in seinen lauwarm gewordenen Kaffee hinein. Wie lange würde sich dieses Morgenritual noch wiederholen? Wie lange würden sie dieses emotionale Chaos, das sich Ehe nannte, noch ertragen können?
Er schlurfte ans Fenster und sah in die Straßenschlucht hinab, wo der Regen die Lichter und Abgasfahnen der Fahrzeuge zu einer teigigen Masse verschmolz. Er versuchte, die dem Schlaf entrissenen Gedanken der Männer und Frauen in den vor Schmutz und Nässe starrenden Blechkarossen zu erraten: Jäh vom Wecker unterbrochene Träume; Pläne für den Feierabend oder das scheinbar unendlich ferne Wochenende; ein letzter hypothetischer Check, ob man ausreichend gerüstet ist, um auf der Sitzung des Aufsichtsrates bestehen zu können; der wiedergekäute Zorn über die abermals verpasste Beförderung; das Zurechtlegen von Ausreden, mit denen man dem Ehepartner glaubhaft erklären konnte, was eigentlich nicht zu erklären war - die Nacht in einem fremden Bett.
Er genoss es, als unbeteiligter Zuschauer in solchen Gedankenspielen versinken zu dürfen. Niemand verlangte mehr von ihm, dass er die verstreichenden Augenblicke mit der Kamera durchleuchtete, denn er hatte sich von dem Wanderzirkus verabschiedet. Seit sieben Monaten gehörte er nicht mehr dazu. Das Banner der Tagesaktualitäten, dem er als Fotoreporter hatte hinterherlaufen müssen, trugen jetzt andere. Er hatte sich unter die Zuschauer gemischt und betrachtete ohne Wehmut die Bilder seiner Nachfolger.
Der Fotoladen am Benediktplatz, den er im September übernommen hatte, zählte nicht, war nur ein Bluff, die Fassade eines Potemkinschen Dorfes, um Zeit zu gewinnen und um Renate und alle anderen, die nur »sein Bestes« wollten, zu besänftigen. Er war keine Krämerseele, aber das verstanden sie ebenso wenig wie sein versteinertes Gesicht, als Dekan Danziger - ihn Schwiegervater zu nennen, war ihm in all den Jahren nicht gelungen - das Ersparte hinblätterte, um mitzuhelfen, Renates Idee zu verwirklichen, die darin bestanden hatte, dem Fotoladen einen Video-Verleih anzugliedern.
»Das Unternehmen muss zugkräftiger werden«, hatte sie gemeint. Aus dem Blickwinkel der Geschäftsfrau war diese Ansicht durchaus vernünftig gewesen.
Mochten sie glauben, was sie wollten, und im Buch der guten Taten ein Sternchen ernten, mochten sie seine Hochzeitsund Porträtfotos, die für ihn nur Alibi waren, loben und, auf das Florieren des Video-Verleihs hoffend, gedanklich bereits die Rendite abschätzen - an seiner Einstellung zu ihrem Geschäft änderte das nichts. Sie hatten ihm eine Funktion zugewiesen und für ihn war dieses Rollenspiel der unkomplizierteste Weg, Zeit zu gewinnen. Aber wofür?
Er war nicht bereit, sich als Sünder zu fühlen, bloß weil er die geschenkte Zeit nicht gleich mit neuen Plänen totschlug. Er lebte hinter der Fassade des Fotoladens in den Tag hinein, ohne ein Programm für die nächste Woche oder den nächsten Monat zu haben. Nach dem Aufwachen in einen leeren Terminkalender schauen zu können, war eine angenehme Erfahrung.
Während dieser wohltuend langweiligen Tage konnte er sich fixen Ideen hingeben, wie einst, als er die Fotografie für sich entdeckt hatte. Sie war zum beständigsten Teil seines Lebens geworden. Er hatte mehr Zeit mit dem Arrangieren von Licht und Schatten verbracht als mit irgendetwas anderem.
Eigentlich hatte er geglaubt, dass er seine Illusionen gewissermaßen als Tribut für das eigene Überleben irgendwann bei der Arbeit für das Nachrichtenmagazin Echo in Afghanistan, Kambodscha, Äthiopien oder Somalia stillschweigend begraben hatte. Denn Schützengräben an undurchschaubaren Frontlinien oder Fußmärsche durch Minenfelder, aufgereihte Kinderleichen, Wasserbäuche und Seuchen, Erdbeben und Reaktorstörfälle, der enge Kontakt zu Siegern und Besiegten, zu Hungernden und Entwurzelten, die allesamt Opfer der gleichen machtgeilen Maschinerie geworden waren, all diese von Menschen heraufbeschworenen Abscheulichkeiten gestatteten keine Hirngespinste, wenn man selbst überleben und den Verstand nicht verlieren wollte. Aber die Luftschlösser waren noch da. Ihre Konturen hatten zwar Patina angesetzt, aber sie waren noch da, was ihn jetzt, während er in den verschwommenen Morgen hinaussah, überraschte und hoffen ließ.
Renate interessierte sich nicht mehr für seine Gedanken. Sie kam ihm manchmal vor wie ein Spion, den die Gegenseite umgedreht hatte. Als hätte sie, Schritt für Schritt mit ihrem beruflichen Erfolg, die Seiten gewechselt.
Anfangs, nachdem er den Job bei Echo aufgegeben hatte, hatte sie ihn regelrecht in Zärtlichkeit gebadet. Da hatte sie noch geglaubt, das Adrenalin der Schlachtfelder werde ihn nicht loslassen. Sie hatte ihm eine »schöpferische Pause« zugestanden und seinen Seesack in die Reinigung gegeben. Er hatte es geschehen lassen und sich ein ums andere Mal gewundert, wozu sie, vom Ehrgeiz getrieben, fähig war. Aber diesem Ehrgeiz war die Geduld des Fotografen fremd und so verwandelte sich schließlich ihr Verständnis in Mitleid und dann, als sie seinen Bluff mit dem Fotoladen zu durchschauen begann, in Verachtung. Dass er womöglich ihr Bemühen um sein Glück mit hinterhältigen Spielchen sabotierte, trieb sie bei jedem ansatzweise aufkommenden Gespräch zur Raserei.
Durch den täglichen Austausch von Bosheiten lernten sie sich besser kennen als in all den scheinbar harmonischen Jahren ihrer Ehe. Seltsam, wie eingeschränkt die Sprache der Liebe ist und wie unendlich facettenreich die Vokabeln der Abneigung. Irgendwann sind Worte nur noch der Dünger des Hasses, irgendwann vernichten sie jede Liebe.
Acht Uhr. Zeit, den Laden zu öffnen. Auch wenn er sich zu nichts verpflichtet fühlte, so wollte er doch das Spiel noch eine Weile fortsetzen. Der Gedanke an den Brief der Kunsthochschule, den er wie einen Joker zwischen Unfall- und Lebensversicherungspolicen im Schreibtisch verwahrte, half ihm, seine verkaterten Knochen aufzuraffen.
Das heiße Wasser der Dusche spornte seine Lebensgeister an. Minutenlang konnte er das Gesicht in den Schwall der Brause halten, bis die Haut sich rötete wie nach einem Sonnenbad. Das an ihm herabschießende Wasser wirkte erregend und früher hatte sich Renate oft morgens zu ihm unter die Dusche gedrängt. Doch die Vorstellung, es heute dort mit ihm zu treiben, überstieg zweifelsohne die Phantasie der Pfarrerstochter, als habe sie das endlose Brüten über Geschäftsbilanzen frigide gemacht, mehr noch, als sei das Empfinden von Lust für sie zum Greuel geworden und der Koitus zu einer rein biologischen Angelegenheit, lediglich notwendig zum Fortbestand der Gattung, zum Erhalten des Gleichgewichts von Soll und Haben und in einem Atemzug mit Nahrung und Kleidung zu nennen.
»Ein Kind! Wie stellst du dir das vor? Wo hast du nur auf all deinen Reisen die Augen gehabt? Es ist mehr als verantwortungslos, auf dieser verseuchten, übervölkerten und von Korruption in Gang gehaltenen Welt ein Kind zu gebären.«
Diese Belehrung hatte sie ihm vor Monaten eingebleut, aber er erinnerte sich an die kompromisslose Kälte ihrer Stimme, als sei es gestern gewesen.
»Deine Vorstellung von Verantwortung wird nur noch von der Naivität derer übertroffen, die zwar brilliant erklären können, wie das Leben entsteht und wie wunderbar es ist, die aber im gleichen Atemzug alle Methoden der Empfängnisverhütung als ein Werk des Satans verteufeln«, hatte er damals geantwortet und das Thema Familienplanung abgehakt.
Aber trotz ihrer Entschiedenheit schien es ihr nicht gelingen zu wollen, die Sexualität zufriedenstellend in eines ihrer Organisationskonzepte einzubauen - ein Mangel, der sie im Laufe der Zeit spürbar wütender auf sich selbst werden ließ. Und so geschah es noch immer, dass sie ihn im Schlaf überfiel und zornig wie eine Ringkämpferin umklammerte, bis sich ihr atemloses Wimmern in selbstverachtendem Schweigen verlor und sie wie ihr eigener Schatten ins Bad floh, wo sie endlos duschte.
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