Vor zwei Wochen hatte sie sich zuletzt zu einem ähnlichen Exzess hinreißen lassen. Als sie danach aus dem Bad zurückkam, hatte sie ihn wachgerüttelt und angefaucht: »Wenigstens dazu bist du noch halbwegs im Stande. Aber bilde dir nur nichts darauf ein! Vaginaler Orgasmus, dass ich nicht lache! Dafür hat es noch nie gereicht. Ist alles Schwindel, eine chauvinistische Erfindung.«
Sie war nicht immer so gewesen. In jüngster Zeit, beispielsweise wenn er Brautpaare zur Dokumentation des unvergesslichen Augenblicks vor der Kamera postierte, dachte er oft daran, wie es angefangen hatte und was diesem Anfang vorausgegangen war.
Schon während des ersten Jahres am Gymnasium hatte Hans Sperling begonnen, Arnos Zukunft abzustecken. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Entwurf für die Laufbahn seines Ältesten bei jedem Familienfest vor der versammelten Verwandtschaft auszubreiten.
»Ingenieur kann jeder Hanswurst werden. Aber dafür haben Margot und ich nicht all die Jahre so knausrig gewirtschaftet. Unser Arno wird Jura studieren, denn die Rechtswissenschaft ist das Sprungbrett zur Macht. Eine große, helle Kanzlei werde ich ihm einrichten, so wahr ich Hans Sperling heiße.«
Es war einer dieser Träume von Vätern, die sich angeblich nur deshalb ein Leben lang abrackern, damit ihre Söhne und Töchter einmal besser leben können als sie selbst. Sie haben diese Träume von ihren Vätern übernommen und wissen ganz genau, wie es aussieht, dieses bessere Leben. Nur leider, so sagen sie, habe ihnen die Geschichte die Suppe versalzen, bevor sie es sich selbst einrichten konnten.
Arno hatte mit solchen Redensarten nie etwas anfangen können. Er hielt sie für Anachronismen aus einer Zeit, die, wenn er den Dokumentationen des Geschichtsunterrichts und den eigenen Studien glauben durfte, von Hunger und Arbeitslosigkeit, nationalem Größenwahn und Holocaust geprägt worden war. Er aber war ein Kind des Wirtschaftswunders, das mit offenen Augen lebte und sich mehr oder weniger kluges Management nicht als Wunder verkaufen ließ.
»Euch hat der Rock ’n’ Roll gefehlt. Gegen ihn wäre euer Adolf chancenlos gewesen«, hatte er seinem Vater einmal entgegenhalten, als dieser in der Familienrunde einmal mehr laut über die verlorenen Chancen seiner Generation nachzudenken begann. »Aber ihr seid ja damals bloß auf Marschmusik abgefahren und tut es heute noch immer. Als würde er euch fehlen, der große Dirigent.«
Damals war er siebzehn gewesen, und einige Jahre später, nach dem Ende der Wehrdienstzeit, hatte er keine Sekunde mehr über die Pläne seines Vaters nachgedacht, als er sich für ein Studium in der Fachrichtung Fotografie und Design eingeschrieben hatte. Das voraussehbare Gebrüll des Sheriffs war an ihm abgeprallt. Er hatte seine Habseligkeiten in einem geliehenen Käfer verstaut und Thalbach verlassen. Nur von seiner Mutter hatte er sich verabschiedet. Sie hatte ihn stumm umarmt und ihm sieben Hunderter unter das Hemd geschoben.
Aber sein Atem reichte nicht einmal für drei Semester. Irgendwie brachte er den Studienplan nicht mit dem, was er täglich draußen sah und hörte in Einklang. Bald empfand er das gestelzte Kunstgehabe von Dozenten und Kommilitonen nur noch als linkslastige Platitüde, mit der er ebenso wenig anfangen konnte wie früher mit den Sprüchen des Sheriffs. Er hatte sich nicht gegen die muffigen Traditionen der Sperlings gewehrt, die sich, wie er ernüchtert feststellen musste, nicht nur auf die Topographie von Thalbach beschränkten, sondern über die man selbst in der Großstadt ständig stolperte, um nun in zeitverschwendendem L’art pour l’art zu verkümmern.
Eine namenlose Ungeduld, die sich nicht an der Hochschultür abstellen ließ, bedrängte ihn. Aber er war nicht allein mit dieser Ungeduld. Viele unserer Generation - Anfang der fünfziger Jahre geboren und in einem alles verzehrenden und zukleisternden Fressrausch aufgewachsen - saßen zwischen den Stühlen. Einerseits waren wir zu jung, um zu den Achtundsechzigern zu gehören und erlebten nur noch das Scheitern von deren Utopien im Terrorismus, andererseits gehörten wir auch nicht zur Turnschuhgeneration, die ihre sehnsuchtslose Nullbockmentalität im Disco-Fieber auslebte, dafür waren wir zehn Jahre zu alt. Die Zukunft war offen und die Vergangenheit bot nur eine zweifelhafte Orientierungshilfe. Also mussten die, die sich nicht von den überkommenen Normen und Redensarten der Vätergeneration nivellieren lassen wollten, ihren Hunger nach Leben im Selbstversuch stillen.
Um sich nicht vollends von seiner vermeintlichen Berufung zu verabschieden, und um dem Sheriff den Triumph väterlicher Weitsicht zu versagen, begann Arno eine Ausbildung zum Fotografen. Im Studio von Fritz Weinreich, einem Juden, der mitten in Deutschland der Aufmerksamkeit der Nazischergen entgangen war, lernte er, die Fotografie als Handwerk zu begreifen. Fernab von Wissenschaft und zwanghaftem Streben nach einer Kunst, die kaum mehr als elitäre Künstlichkeit hervorbrachte, wurden ihm die Augen für das Sehen in Schwarzweiß geöffnet. Und diese konsequente, von farbigen Gefühlsduseleien befreite Sehweise wies ihm schließlich den Weg zur Pressefotografie.
Den professionellen Einstieg in dieses Genre ermöglichte ihm ein zunächst auf zwei Jahre befristeter Arbeitsvertrag beim Tagesspiegel . Im März 1974 nahm er dort seine Arbeit auf.
Obwohl die Rote Armee Fraktion in diesen Tagen verstärkt dazu überging, ihre außerparlamentarische Opposition mit einem widerwärtigen Bomben-Dakapo zu proklamieren und die Terrorakte ideologisch als Kampf gegen die Schalthebel des imperialistischen Machtapparats rechtfertigte, lag eine erwartungsvolle Ruhe über dem Land. Noch boomte die Wirtschaft und die optimistische Stimmung nach den 72erWahlen, aus denen die Koalition von Sozialdemokraten und Liberalen unter Führung von Willy Brandt gestärkt hervorgegangen war, hielt an. Noch glaubte man daran, dass mehr Demokratie gewagt und der Mief von »tausend Jahren« endlich weggefegt werden könnte. Demonstrationen schienen einen neuen Sinn zu bekommen und geistiges Ärmelhochkrempeln war nicht von vornherein verdächtig.
Während der ersten Monate beim Tagesspiegel war Arno mit Karsten Hübner unterwegs, einem schreibenden Kollegen und intimen Kenner der Lokalszene. Er begleitete Hübner zu Presseerklärungen ins Rathaus, zu halbwegs spektakulären Einsätzen von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk, zu Grundsteinlegungen, zu Partei- und Vereinsversammlungen, zum Tatort von Schlägereien im Rotlichtviertel, von denen sie über den Polizeifunk erfuhren, und ähnlichen Ereignissen von regionaler Bedeutung.
Am 1. Mai 1975 versammelten sich die Demonstrationszüge des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Allgemeinen Studentenausschusses nach einem Sternmarsch zu einer gemeinsamen Schlusskundgebung auf dem Rathausplatz. Ein Anlass, für den die Lokalredaktion des Tagesspiegels drei Spalten und ein Foto zugestanden bekam.
Die Stimmung unter den Demonstrierenden war ausgelassen und heiter. Bunte Transparente und Pappschilder wurden hochgereckt und schwankten wie die Figuren in einem Kasperletheater über der Menge. Die Sprechchöre klangen vergnügt wie der Gesang in einem Volksfestzelt, als hätte die Macht des erwachenden Frühlings den kämpferischen Geist entschärft.
Arno schoss gelangweilt Aufnahmen von Spruchbändern, deren Inhalte er sofort nach dem Zuschnappen des Kameraverschlusses vergaß. Er war nicht in der Stimmung für Parolen und sah sich deshalb nach einem günstigen Plätzchen zum Sonnen um. Es genügte, wenn Hübner auf das Podium turnte und den Rednern das Tonband unter die Nase hielt.
Auf einem Sockel neben der Rathaustreppe stand ein in Stein gemeißelter, majestätisch über die Menge blickender Löwe. Arno kletterte hinauf und lehnte sich an die Vorderbeine des fürstlichen Kolosses. Doch kaum hatte er das Gesicht der Sonne zugewandt, verdunkelte sich diese und versteckte ihr Lachen hinter einer von Nordwesten heranwalzenden Wolkenwand, die heftige Windböen vor sich herscheuchte, die Augenblicke später an den Dächern rüttelten, woraufhin diese empört klappernd ihren Mittagsschlaf unterbrachen; eine stieß dem Gewerkschaftler am Mikrofon den Rest seiner Rede in den Hals zurück und blies in die auf dem Podium aufgestapelten Flugblätter, so dass diese wie ein Taubenschwarm aufflatterten und über die Köpfe der Menschen segelten, was Applaus und Gejohle verursachte. Dann hielt der Wind zwei Wimpernschläge lang den Atem an und während Arno das Objektiv seiner Kamera um zwei Blenden öffnete, um wenigstens eine sechzigstel Sekunde Belichtungszeit zu erhalten, stürzten die Wolken auf den Platz herab.
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