"Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken."
Ich erhebe mich aus meiner hockenden Position und wische mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich muss gegen die Sonne blinzeln, darum dauert es eine Weile, bis ich den Mann genau erkennen kann. Er trägt Fahrradkleidung, seinen Helm hat er abgenommen und unter den Arm geklemmt. Er ist groß und hat dunkles Haar, das an einigen Stellen bereits grau wird. Die Farbe von Salz und Pfeffer. Seine Augenfarbe kann ich von hier aus nicht erkennen, aber seine gerade Nase und die vollen Lippen. Ich lächle ihn an.
"Oh, kein Problem, ich war nur ganz vertieft. Was kann ich für Sie tun? Haben Sie sich verirrt?"
Ich weiß gar nicht, wie ich auf diese Frage komme. Die wenigsten, die hier vorbei kommen, haben sich verirrt. Inzwischen hat jedes Handy ein GPS und sich versehentlich in dieses Tal zu verirren ist ziemlich unwahrscheinlich.
Der Mann scheint jedoch nicht verwundert über diese Frage.
"Das weiß ich noch nicht. Bin ich hier auf dem alten Burgweg?"
"Ja, da sind Sie. Wo wollen Sie denn hin?"
"Nach Nassau."
"Dann müssen Sie diesem Weg bis zum Mühlbach folgen, dann immer dem Mühlbach entlang in nördliche Richtung. Haben Sie ein GPS?"
"Ich habe noch nicht einmal ein Handy bei mir", sagt er."Aber ich habe eine Karte. Jetzt weiß ich ja, dass ich auf dem richtigen Weg bin."
"Sie dürfen sich gerne etwas Holunderschorle und Kuchen nehmen. Es kostet nichts. Von woher kommen Sie denn?"
"Nastätten."
"Dann sind Sie ja schon eine ganze Weile unterwegs. Ist doch ein guter Zeitpunkt für eine Pause."
Ich gehe wieder in die Hocke, um Petersilie zu schneiden und um dem Mann zu signalisieren, dass er sich gerne ohne mich erfrischen darf. Ich mag es, wenn Radfahrer oder Wanderer vorbeikommen, und manchmal halte ich auch ein kleines Pläuschchen mit ihnen, aber ich habe nicht immer Lust oder Zeit dazu. Heute habe ich keine Lust.
Doch der Mann bewegt sich nicht.
"Wohnen Sie hier ganz alleine in der Mühle?"
Diese Frage alarmiert mich sofort. Sherlock und Zita spüren meine Anspannung und beide lassen ein tiefes, beeindruckendes Grollen hören.
"Wie Sie sehen, wohne ich hier nicht alleine. Insgesamt 70 Kilo Hund leisten mir Gesellschaft, fünfzehn Hühner und zwei Pferde. Und wissen Sie, diese Frage kommt ein bisschen komisch von einem fremden Mann, der mich bei der Gartenarbeit erschreckt."
Seit ich praktisch in der Wildnis wohne und vor allem für mich selbst verantwortlich bin, sind mir viele Formalitäten und vermeintliche Höflichkeiten ziemlich schnuppe geworden. Ich will niemanden mehr beeindrucken oder von mir überzeugen.
Mein Gegenüber jedoch scheint da ganz ähnlich unkonventionell zu sein. Er lächelt ein bisschen. Kein irres Lächeln. Er sieht nett dabei aus.
"Da haben Sie recht. Das war eine ziemlich blöde Frage und es geht mich ja auch nichts an. Aber ich habe nicht erwartet, in so ein abgeschiedenes Tal zu geraten und dann diese wunderschön renovierte alte Mühle vorzufinden."
Ohne dass ich es will, erfüllen mich seine Worte mit Besitzerstolz und mein Blick schweift über mein Zuhause.
"Ich finde es auch schön hier", sage ich dann."Und jetzt muss ich weiter arbeiten, nehmen Sie sich doch Kuchen. Er ist lecker." Ich starre demonstrativ auf die Petersilie. Doch der Mann bewegt sich immer noch nicht fort. Ich finde das ärgerlich. Sherlock und Zita haben sich wieder entspannt und sind unter den Holunderbusch getrottet, wo es kühler ist und sie einen guten Blick auf Frauchen und den Fremden haben. Ich fühle mich von ihnen ein bisschen verraten. Warum bleiben sie nicht knurrend und zähnefletschend an meiner Seite?
"Wenn Sie noch länger da stehen bleiben, verdonnere ich Sie dazu, den Giersch herauszurupfen."
Ich bin mir sicher, dass er keine Ahnung hat, was Giersch ist.
Zu meiner völligen Verblüffung legt der Mann seinen Fahrradhelm ins Gras und steigt über die niedrige Umgrenzung aus Weidengeflecht, mit der ich die Beete umrandet habe. Er steuert zielstrebig auf das Beet mit den gerade erknospenden einjährigen Sommerblumen zu und beginnt sorgfältig, den am Beetrand wuchernden Giersch aus der Erde zu ziehen. Ich starre ihn an.
"Was machen Sie denn da?"
Mein Gehirn hat offensichtlich gerade keine Sternstunde.
"Ich rupfe den Giersch heraus."
"Das sehe ich. Was soll das?"
Er schaut nicht einmal auf.
"Sie haben es doch gesagt."
"Soll das hier eine besonders subtile Anmache werden?"; frage ich, und in meiner Stimme liegt unverkennbarer Ärger.
Der Mann lässt sich nun in die Hocke sinken und schaut mich etwas spöttisch an. Das irritiert mich. Aber ich sehe, dass seine Augen dunkelblau sind.
"Nein. Das soll es nicht. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Aber als ich hier vorbei kam, hatte ich einfach den Wunsch, den Menschen kennenzulernen, der sich das alles hier erschaffen hat. Dieser Ort ist... wunderschön."
Was soll ich darauf erwidern? Ich habe keine Ahnung. Also sage ich einfach"Danke", und da wir uns schon in einer etwas absurden Situation befinden, kann ich ja gleich damit weitermachen, mir geradewegs in den Sinn kommende Fragen zu stellen.
"Woher kennen Sie Giersch?"
Jetzt grinst der Mann.
"Ich hatte auch mal einen Garten. Nicht so schön wie dieser hier, aber für Giersch hat es gereicht."
"Warum haben Sie keinen Garten mehr?"
"Ich musste fortziehen. Und danach hatte ich keine Gelegenheit mehr zum Gärtnern. Es klingt vielleicht komisch, aber Sie würden mir ein Freude damit machen, wenn ich hier einfach noch ein bisschen rupfen dürfte. Ich habe das lange nicht mehr gemacht. Ich hab es wohl vermisst."
Er sagt die Wahrheit. Und ich verstehe ihn.
"Das klingt überhaupt nicht komisch", sage ich und reiche ihm meine Gartenschere."Wenn Sie den Giersch gerupft haben, können Sie etwas Petersilie, Thymian, Salbei und Zitronenmelisse schneiden. Und wenn sie mit der Arbeit fertig sind, gibt es Kuchen und Holunderschorle."
Jetzt schaut er mich verblüfft an und ich muss laut lachen, was mir etwas unangenehm ist. Meine Nerven liegen wohl doch noch blank.
"Warum schauen Sie mich so an?", frage ich.
"Sie sind ungewöhnlich selbstbewusst."
Ich zucke nur mit den Schultern.
"Wir sind hier auf meinem Terrain" antworte ich.
Dann machen wir uns beide an die Arbeit im Garten und sagen eine Weile nichts. Er kennt sich aus, kann Kraut von Unkraut unterscheiden und scheint sich in der Gartenarbeit zuhause zu fühlen. Für mich ist es seltsam, dass jemand neben mir im Garten kniet, aber ich versuche, mich auf meine Tätigkeit zu konzentrieren. Es kommen noch zwei Wanderer vorbei, ein Ehepaar. Sie nehmen sich Essen und Trinken, sind begeistert, bedanken sich und ziehen weiter. Der Mann und ich arbeiten, während die Wanderer sich erfrischen.
Es ist etwa eine Stunde vergangen, als er aufsteht, sich die Erde von den Knien klopft und sagt:
"Ich bin Lukas. Lukas Berg."
"Linh Hauser", entgegne ich.
"Jetzt würde ich gerne etwas trinken und den Kuchen probieren. Und ich würde mich über Ihre Gesellschaft sehr freuen."
Ein Satz wie aus einem Roman oder einem Film. Er verleitet mich dazu, ein bisschen frech zu werden.
"Das haben Sie so formvollendet gesagt, dass ich schlecht ablehnen kann. Also leiste ich Ihnen etwas Gesellschaft. Ich gehe mir nur schnell die Hände waschen. Das möchten Sie sicher auch tun. Dort vorne an der Hauswand ist ein Wasserhahn."
Ich lasse fremde Männer nicht gern in mein Haus, auch wenn Sie Gartenliebhaber sind. Selbst Jonas musste eine Weile warten, bis er zu mir hinein durfte. Inzwischen hat er sogar einen eigenen Schlüssel.
Wir treffen uns an der Bierzeltgarnitur wieder, setzen uns gegenüber und ich gieße jedem von uns Holunderschorle ein. Er reicht mir ein Kuchenstück auf einem der bereitgestellten Teller und nimmt sich selbst auch eines. Dann essen und trinken wir.
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