Ich wähle ihre Nummer von meinem Handy aus und es tutet nur drei mal, dann wird am anderen Ende der Leitung bereits abgehoben und Paulas Stimme klingt frisch, tief und vertraut.
"Hier ist Linh. Ich denke, du hast noch nicht geschlafen, oder?"
Es tut gut, die Freude in Paulas Stimme zu hören.
"Na sowas, mein Glückskeks ruft an! Das ist aber schön. Und natürlich habe ich noch nicht geschlafen. Ich sitze nämlich an meinem neusten Kochbuch, fünfzig erfundene Urlaubsgerichte für Daheimgebliebene."
Ich muss tatsächlich lachen. Seit ihrer Pensionierung schreibt Paula Kochbücher mit seltsamen Titeln und unglaublich leckeren Rezepten, und sie hat großen Erfolg damit. Und – wie auch ich es tue – veröffentlicht sie ihre Bücher unter einem Pseudonym, denn auch sie liebt das Leben in der Abgeschiedenheit.
"Was hat es denn damit auf sich?", frage ich.
"Nun ja, es handelt sich um Gerichte, die man vielleicht so im Urlaub gegessen haben könnte, nur, dass ich sie selbst erfunden habe. Balkanstil, Chinastil, französisch, indisch, mediterran und so weiter... Dazu gibt es zu jedem Rezept eine kleine Geschichte, die man seinen Gästen zu dem Gericht auftischen kann. Du weißt schon... im Sinne von dieses Soufflé hab ich in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Montmartre zum ersten Mal gegessen, ich musste mit dem Koch schlafen, um an das Rezept zu kommen."
Paulas tiefe, leicht spöttisch klingende Stimme perlt in meinem Kopf wie Sekt und ich fühle, wie ich mich entspanne und ein Teil der Last des Tages leichter wird.
Ich versichere Paula, dass auch dieses Kochbuch ein Renner werden wird und erkundige mich nach Kugel, ihrem Basset-Hound, und nach Kuhlmann, ihrem Lebensgefährten, einem Gefäßchirurgen, den sie selbst aus einem mir unbekannten Grund immer nur beim Nachnamen nennt. Ich glaube, er heißt Ferdinand, bin mir aber nicht sicher. Beide, Hund und Freund, erfreuen sich bester Gesundheit und schlafen bereits seit Stunden. Wir lachen kurz über die Reihenfolge meiner Erkundigungen: Erst der Hund, dann der Mann. Doch die kluge Paula hat schnell raus, dass ich nicht zum Plaudern angerufen habe und spricht mich direkt darauf an.
"Wenn du mich um diese Uhrzeit anrufst, hast du etwas auf der Seele, Linh. Was kann ich für dich tun?"
Paulas nüchterne und doch einfühlsame Art macht es mir leichter, die Geschehnisse zu erzählen, und ich berichte ihr alles, was mir im Zusammenhang mit Katharinas Tod berichtenswert erscheint. Als ich fertig bin, herrscht am anderen Ende der Leitung eine kurze Stille.
"Das ist sehr traurig.", sagt Paula dann. Katharina und sie sind sich einige Male bei mir begegnet und mochten sich sofort.
"Und das klingt in der Tat beunruhigend. Und da ich um dein besonderes Talent weiß, klingt es umso beunruhigender. Aber ich kann tatsächlich etwas für dich tun. Ich habe noch Verbindungen zur Kripo in Hamburg. Allerdings werde ich nicht mit der Tür ins Haus fallen können, du musst mir also etwas Zeit geben."
Ich schöpfe Hoffnung.
"Ich danke dir sehr, Paula. Ich... ich frage mich wirklich, in was Katharina da hineingeraten ist. Sie war so... so unschuldig und hat als Kind noch nicht einmal eine Mark behalten können, die sie auf dem Boden gefunden hat. Das passt alles nicht. Es ist das völlig verkehrte Ende für einen so lieben Menschen."
Paula seufzt.
"Das stimmt, Liebes. Aber wir sind beide Wahrheitssucher, wenn auch in Rente. Alte Gewohnheiten sterben bekanntlich nicht. Es war sicherlich das verkehrte Ende, aber wir können dafür sorgen, dass Katharinas Geschichte hier nicht endet. Ich schau, was ich tun kann. Gibt es eine Kopie der Festplatte?"
"Die ist in meiner Reisetasche."
"Was immer du darauf findest, halt' bitte die Füße still und warte, bis ich mich melde. Versprichst du mir das?"
Ich verspreche es. Wir wünschen uns beide alles Gute und schicken uns durch die Leitung dicke Umarmungen, dann lege ich auf und zum ersten Mal, seit ich von Katharinas Tod erfahren habe, heule ich Rotz und Wasser.
Donnerstag, 5. Mai bis Freitag, 13. Mai
Ich bleibe neun Tage in Hamburg, bis zu Katharinas Bestattung. Die Staatsanwaltschaft hat keine Mordermittlungen eingeleitet, es heißt, der Leichnam sei obduziert worden und man habe keine Spuren von fremder Gewalteinwirkung gefunden und auch der toxikologische Befund sei unauffällig gewesen, offiziell lautet die Todesursache also Suizid. Katharinas Computer und ihre persönlichen Gegenstände, der Laptop, das Handy, ihr Reisekoffer wurden tatsächlich zurück gebracht. Nicht von Gruber und Kleinschmidt, sondern von zwei anderen Beamten. Das macht es noch rätselhafter, in welcher Funktion die beiden Männer hier waren.
Thomas bittet mich, auch den PC mitzunehmen. Ich sage es ihm zu.
Die Tage bis zur Bestattung vergehen wie Kaugummi. Ich besuche Thomas' Familie nicht jeden Tag. Ich kaufe ein und bringe die wichtigsten Dinge vorbei, koche mit Katharinas Schwiegermutter und serviere Kaffee. Thomas ist mit den Formalitäten, die der Tod mit sich bringt, ausgelastet. Katharinas Mutter ist im Schock. Zum Glück redet sie viel mit mir, aber es ist deutlich, dass sie lange brauchen wird, um aus dem Dunkel heraus zu kommen, wenn überhaupt. Auch sie ist fest davon überzeugt, dass Katharina sich nicht selbst umgebracht hat. Ich fürchte, die Tatsache, dass die Ermittlungen eingestellt wurden, hat sie noch mehr gebrochen, wenn das überhaupt möglich ist. Dass Eltern ihre Kinder begraben müssen ist eine der fiesesten Zumutungen, die das Universum für uns bereit hält. Und auch, dass Kinder wie Malte ihre Mutter so früh verlieren.
Julia tut was sie kann, sie hat ihm ein Fußballtrikot der brasilianischen Seleçao mitgebracht mit einem Autogramm von Neymar. Zu anderen Zeiten hätte Malte sich nicht mehr eingekriegt vor Freude. So lächelt er nur ein wenig, aber er sucht ständig Julias Nähe und bekommt sie auch. Julia fliegt zwischendurch wieder nach Brasilien und kommt zu Katharinas Beerdigung zurück.
Ich versuche, ein wenig zu schreiben, das lenkt mich ab. Der dritte Band meiner "Waldflüsterer"-Serie soll bis Ende das Jahres fertig sein. Ich habe nach Toms Tod angefangen zu schreiben, es war Teil meiner Bewältigung des Unfassbaren. Ich habe Tom immer selbsterfundene Geschichten erzählt. Er liebte sie mehr als die Geschichten aus den Büchern, die ich ihm vorlas. Nachdem er tot war, wollte ich ihm weiter Geschichten erzählen, zunächst Kindergeschichten mit sprechenden Tieren und einem Ende, bei dem sich alle lieb haben. Dann wurden daraus Geschichten für einen älteren Tom, den ich so nicht mehr erleben darf. Also begann ich, über eine Gruppe junger Menschen zu schreiben, die entdecken, dass sie mit der Natur kommunizieren können, mit dem Wald und mit den Tieren. Das verleiht ihnen ungeahnte Kräfte, welche die einen nutzen und die anderen ausnutzen wollen. Es war Paula, die mich drängte, diese Geschichte einzusenden. Sie hatte sie unerlaubterweise gelesen, als ich das Manuskript in meinem alten Gästezimmer, das ich auch als Büro nutzte, hatte liegen lassen. Zunächst fühlte ich mich hintergangen, doch Paula ließ nicht locker, und da ich nicht daran glaubte, dass daraus etwas werden würde, schickte ich es ein. Völlig unerwartet wurde es ein Riesenerfolg. Kinder und Jugendliche verschlingen meine Bücher und der ursprünglich kleine Pulsar-Verlag, der die Bücher herausgibt, ist dadurch größer geworden. Sie sind inzwischen in vierzig Sprachen übersetzt worden. Zum Glück kann ich es mir leisten, ein gut gehütetes Geheimnis zu bleiben. Ich habe vertraglich mit dem Verlag festgelegt, dass ich unter allen Umständen anonym bleibe. Inzwischen ist meine Existenz geheimnisumwittert und ein Teil des Kultes, der um die Bücher entstanden ist. Ich hoffe, dass es noch lange so bleiben kann. Der große Erfolg macht mir manchmal Angst. Aber gleichzeitig tröstet mich der Gedanke, dass Tom die Geschichten vielleicht auch geliebt hätte. Das Schreiben ist mein Bollwerk gegen die immer mal wieder anklopfende Dunkelheit. Und ich habe meine Charaktere inzwischen so lieb gewonnen, dass ich sie unbedingt weiter leben lassen will, bis auf diejenigen, von denen ich jetzt schon weiß, dass sie sterben müssen.
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