Er schwang sich hinauf, schaute hinunter auf die belgischen Panzer, die frühmorgens hier durchkamen, um zum Manöver zu fahren, sah dem Bus nach, der Richtung Innenstadt fuhr, fror in seinem braunen Anorak, trotz des Schals, abends um zehn, hinter dem Fernrohr stehend, begeistert Planeten und Mondkrater suchend, die Hände steif vor Kälte. Sein Himmelsausschnitt war begrenzt von den Dächern der gegenüberliegenden Häuser.
Die Fassade war grau wie immer.
Zwei Häuser neben ihm hatte sein Freund gewohnt, ein Junge, der mit fünfzehn darunter litt, nicht zu wachsen, aber zwei große Brüder hatte, mit denen zusammen er ein Geheimnis teilte, einen besonderen Erkennungspfiff. Kröger war damals nicht eingeweiht worden, hatte ihn wegen dieses Pfiffs beneidet.
Schließlich stand er vor seinem alten Haus. Verwittert die Tür. Drei Stufen bis zu den Namen neben den Klingelknöpfen. Er stieg hoch, las die Namen von unten nach oben. Im Parterre wohnten Leute, an die er sich erinnerte. Gotthards hatten Abstand zu den anderen Mietern gehalten. Die Frau war die Schülerin der Hausbesitzerin, einer pensionierten Lehrerin, der Kopfnickerin, gewesen. Diese hatte ihm so manches Buch geschenkt. Die anderen Namen kannte er nicht.
Die Klingelknöpfe waren unverändert schwarz. Die Namen eingeritzt in Messing, als hätten sie schon immer dort gestanden.
Schneider stand dort, wo er gewohnt hatte. So hatten ihre Nachfolger nicht geheißen.
Und Beske dort, wo Fischer hingehörte. Zweimal klingelte er bei der rundlichen Frau, die morgens um vier aufstand, mit dem Gemüsehändler von der Ecke zur Markthalle fuhr, dann bis mittags auf dem Wochenmarkt stand und anschließend in die Eckkneipe ging, um ihr Bier zu trinken und zu reden. Sie machte nicht auf.
Ihr Mann, der Elektriker, malte abends oder entwickelte Bilder in seiner Badezimmerdunkelkammer. ‚Was ich erlebt hab, das konnt‘ nur ich erleben, ich bin ein Vagabund.‘ Er wollte kein Bier von ihm geholt haben.
Und Parteke stand dort, wo Brinkmann hingehörte. Der Mann, ein Jude, nach Holland mit seiner Frau emigriert, war während des Krieges von Bekannten versteckt worden. Und die Frau hielt zu ihm. Sie hatten Glück gehabt. 1950 kehrten sie nach Deutschland zurück und er wurde Kassierer in einer Sparkasse.
„Klingel nur einmal, wenn du kommst“, sagte sie beim ersten Mal. Er holte täglich die Briketts aus dem Keller und stapelte sie nach der Anlieferung, erhielt drei Mark die Woche, sein Taschengeld.
Der schlimme Vorfall zwischen Brinkmann und Meyer, dem früheren SS-Mann, der eingezogen war. Sie hatten sich gestritten, es gab Schmierereien an Brinkmanns Wohnungstür und schließlich bekam Brinkmann einen Herzinfarkt, den er aber überlebte. Meyer zog aus.
Und der Name der fünfundvierzigjährigen Frau über ihnen, die er einmal abends im Hauseingang mit ihrem Freund überraschte und deren Bett über seinem stand, fiel ihm nicht mehr ein.
Kröger drückte auf keine Klingel, wollte die Kälte des Materials nicht spüren, nicht den Hausflur wiedersehen, den er zweimal im Jahr reinigen musste, wenn die Briketts angeliefert wurden. Mürrisch öffnete er trotzdem dem Kohlenhändler die Tür und schaute zu, wie der Mann, auf dem Wagen stehend, seinem Gehilfen die Hucke voll schaufelte, dieser dann über die Steinplatten in den Keller schritt, den Kopf gesenkt, und mit Schwung den Inhalt der Hucke auskippte.
Er wollte den Eimer mit Seifenlauge nicht holen, nicht Aufnehmer und Schrubber tragen, um den Flur zu säubern. Auch nicht den Keller kehren, wobei der Kohlenstaub in Nase und Augen hochstieg, wollte keine Taschentücher voll schnäuzen.
Er hatte nicht das Bedürfnis, den Garten zu sehen mit der Teppichstange und den Wäscheleinen, wollte nicht mehr den alten Teppich klopfen, den sie vor den Bomben gerettet hatten, bei dem die Einfassung zerschlissen war und durch den stellenweise das Licht fiel. Wollte seiner Mutter nicht die Wäsche abhängen und hochtragen. Jetzt wollte er wieder gehen und die Vergangenheit ruhen lassen.
Zügig ging Kröger zurück zur Haltestelle. Nach einigen Minuten kam die Bahn und flog mit ihm über die Nordstadt und den Rhein nach Mülheim.
„Du darfst mich lieben für drei tolle Tage, du darfst mich küssen …“
Auf der Straße tanzten die Narren. Jürgen stand auf einem Podest, kniehoch über dem Bürgersteig, eingehakt in den Arm einer Zigeunerin und schunkelte. Man brachte ihm ein frisch gezapftes Bier, das er in einem Zug austrank, durstig machte das Singen.
Berittene Polizei in Viererreihen kündigte den Zug an, drängte die Leute an den Rändern zurück.
Jürgen löste sich von der schwarzgelockten Frau mit den goldenen Ohrringen und ergriff das Mikrophon.
„Leev Lückcher, wie ihr seht, kütt bahl de Zoch, joht schön zur Sick un bejrößt de Polizei mit einem herzlichen Kölle …“
Und die Jecken machten mit, stießen ein lautes Alaaf aus und hoben gleichzeitig den rechten Arm. Die Männer in Grün ritten vorbei, schauten flüchtig zu ihm herüber. Es dauerte noch etwas, bis der Zug tatsächlich kam. Er löste die Pausentaste des Kassettenrecorders, die Musik lief weiter.
„Mir loße de Dom in Kölle…“ „Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär…“ Der Tanz auf der Straße begann wieder, die Frau mit den goldenen Ohrringen hakte sich bei ihm ein und sie schunkelten, bis tatsächlich der erste Traktor um die Ecke fuhr.
„Der Zoch kütt!“
Die ersten Gruppen kamen zügig voran. Er kannte einige der Akteure persönlich, begrüßte alle herzlich mit einem dreifachen „Kölle!“ und die Leute auf der Straße unterstützten ihn begeistert mit ihrem „Alaaf!“. Die Götter oben auf den Wagen bedankten sich, warfen Manna in die Menge, ließen es hageln. Manche beherrschten die Technik perfekt, flache Pralinenschachteln wie Frisbee-Scheiben durch die Luft gleiten zu lassen.
Es kam einiges bei ihnen an, aber die Zuschauer vor ihnen schnappten das meiste weg. Wer groß war oder springfreudig, fing die Schachteln oder Tulpensträußchen in der Luft ab. Wer sich oben nicht durchsetzen konnte, musste rasch nach unten tauchen, Schokolade, Kekse oder Goldtaler mit flinken Pfoten vor dem Zugriff der Nachbarn sichern. Damen in Pelz bückten sich hastig, zerrten an einer Pralinenschachtel. Omas sahen sich suchend um, klaubten mit kalten Fingern Schokoladentaler von der Erde, füllten unermüdlich Tragetaschen. Doch die Karamellen blieben liegen, wuchsen immer höher, Sedimentgestein, setzten sich fest im Profil der Schuhe, rutschten in Kapuzen und Hüte.
Und jede Begrüßung wurde von Trommel und Becken nebenan lautstark unterstützt. Stöcke klatschten wie dichter Regen auf das Fell der Trommel. Wenn die beiden bauchigen Messingteller zusammengeschlagen wurden, schauten die Götter gebannt herüber und ließen es wieder hageln.
Wir bejrößen herzlich die Blauenfunkenunderudefunkenundemüllemerjungenundiealtstädterundejroßealljemeinekarnevalsjesellschaftunterihrempräsidentenjosefweber.
Die Prinzengarde erschien. Um die Ecke bog in Weiß und Gold der Festwagen des Kölner Prinzen, Klaus VI. Er kannte ihn persönlich, waren früher einmal Kollegen in einer Firma gewesen, aber Klaus hatte sich dann selbstständig gemacht, verdiente viel Geld. Gelegentlich trafen sie sich in ihrer alten Kneipe, noch vor zwei Wochen, müde hatte er gewirkt, kein Wunder nach der langen Saison, wollte ihn persönlich ansprechen und ehren.
Und der Regen hatte kein Mitleid mit den Menschen. Schirme, die zum Sammeln gedient hatten, erfüllten nun ihren angestammten Zweck. Nur der Prinz durfte keinen Schirm aufspannen, trotzte mannhaft dem Regen, fing viel Wasser in seinem großen, steifen Halskragen auf, der ihn noch prächtiger erscheinen ließ.
Jürgen schaute fasziniert auf den Hut mit den langen, wippenden Federn. Dann suchte er seine Augen, traf sie aber nicht.
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