Das Bett wurde zur Seite gedreht, und er konnte sie genauer ansehen. Große, braune Augen, eine leicht nach oben gebogene Nase, die vollen Lippen nicht geschminkt. Sonst nur weiße Haube und Kittel, Mitte dreißig vielleicht.
„Ich lasse Sie jetzt einige Zeit allein, bin aber stets in Ihrer Nähe.“
Neben ihm ein Abstellwagen mit einer nierenförmigen Schüssel, Mulltupfern und einer Schale mit Flüssigkeit. Wie riecht es denn hier, nirgendwo Pflanzen, im Hintergrund ein Fenster mit Tageslicht, überall Apparate und Schläuche, war wohl tagelang bewusstlos, was ist geschehen?
Er schloss die Augen. Vielleicht war alles nicht wahr, wenn er aufwachte, er tauchte weg, saß in einem Pkw, fuhr schnell, immer schneller, raste in einen Abgrund, Dunkelheit, seine Brust schmerzte, bekam keine Luft, war unter Eis, wie damals als Junge, wo ist das Loch, ich ersticke, von fern eine Frauenstimme.
„Haben Sie gut geschlafen, Herr Smolec?“ Sie beugte sich über ihn, er glaubte ihren Duft zu spüren, tief atmete er ein, sog die Luft ein wie ein Erstickender, das tat ihm gut, langsam wurde er ruhiger.
„Sie werden sich jetzt die andere Seite des Zimmers näher ansehen können, übrigens haben Sie Besuch.“ Sie trat zur Seite.
Auf einem hellgrau lackierten Stuhl saß seine Mutter, trug auch einen weißen Kittel, aber kein Häubchen. Ihr glattes, braunes, halblanges Haar ließ sie etwas streng aussehen. Er freute sich, ihre Augen trafen sich.
„Schön, dass du wach bist. Kannst du mich erkennen?“ Georg wollte mit dem Kopf nicken, aber es ging nicht. Seine Mutter spürte aber, dass er sie erkannt hatte, sie lächelte ihn an und erzählte von draußen, vom Wetter, dem Vater und seinen Freunden. Er hörte kaum zu. Warum erzählt sie nicht, was geschehen ist, was mit mir los ist? Ich muss es wissen, alles will ich wissen? Schließlich musste sie gehen.
„Sie sollten noch etwas schlafen, bis ich ihr Bett wieder zurück in die Rückenlage bringe.“
Immer wieder blickte er den leeren Stuhl an, der jetzt in einem milden, grünlichen Licht erschien, fühlte seine Lider schwer werden, tauchte wieder ein ins Nebelland, lag in einem Hubschrauber, der starten wollte, immer lauter die Rotoren, tief drang ihr rhythmisches Flattern in ihn ein, langsam hob er vom Boden ab, stieg immer höher, wachte auf. Sein Bett neigte sich langsam in die Horizontale.
Die Krankenschwester schaute ihn freundlich an.
„Jetzt werde ich wieder ihre Glieder bewegen und Sie anschließend waschen.“
Die Vorstellung war ihm angenehm, er ließ sich gerne von ihr berühren, ließ alles mit sich geschehen, wurde wieder zum Kind, vertraute ihr vollständig. Doch warum erzählte sie nicht, was geschehen war? Auch seine Mutter hatte geschwiegen, nur Unverfängliches geäußert. Wenn es ein Unfall war, wie kam er in dieses Auto, war es nicht sein alter Mercedes, in dem er zuletzt gesessen hatte, ein schwarzer Diesel, schon ziemlich betagt, war irgendwo gewesen, mit Freunden zusammen, richtig, ein Mädchen auf einem Fahrrad, sah sie zu spät, merkte nur den Schlag an der Seite, fährt trotzdem los, denn er hat einiges getrunken mit seinen alten Kumpeln, zwanzig Jahre Abitur, den Lappen darf er nicht verlieren, und rast Richtung Autobahn, ein Heutransport nervt , will überholen, ein Auto, muss ausweichen, das Steuer nach links, die Böschung herab, und dann ist es schwarz.
Die Fassade war grau - wie immer
Venloer Straße! flötete die Stimme. Kröger wurde aufmerksam, blickte aus dem Fenster. Mc Donalds rechts. Heiße Sache. Mc Bacon. Und gegenüber die Konkurrenz. Bunt. Kentucky-Fried-Chicken. Sultan Grill.
Die Bahn überquerte zügig die Straße, fuhr zielstrebig Richtung Unterführung, kroch in den Tunnel. Er spürte die Hitze von damals wieder. Der Asphalt warf Blasen. Und er musste hier durch zum Supermarkt, jobben für die Ferienreise. Schmutzig der Tunnel, wie früher. Einige missglückte Graffiti. Das Blickfeld erweiterte sich. Endstation.
Er stieg aus. Trug schwer an der Schultasche in der rechten Hand. Ging den Gürtel weiter bis zur Subbelrather Straße. Nasses Kopfsteinpflaster. Sicherte links, rechts. Ließ den VW mit der winzigen Heckscheibe vorbei. Lief an den Vorgärten entlang, bis der Gürtel wieder breiter wurde, Platz für Bäume und einen Fußweg in der Mitte ließ. Die Tasche zog ihn nach unten, er wechselte die Hand.
Die Trasse der Gürtelbahn war inzwischen verlängert worden. Kröger fuhr den Weg entlang, den er als Schuljunge gelaufen war, blickte neugierig in die Seitenstraßen hinein. Fridolinstraße, Försterstraße. Hier hatte sein Friseur gewohnt, war ihm lange treu geblieben, bis er das Geschäft aus Altergründen aufgab. Sie hatten sich immer gut unterhalten, doch wenn er über das Dritte Reich reden wollte, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
Eichendorffstraße. Schöne Häuser mit restaurierten Fassaden. Die Kirche im Hintergrund mit rötlichem Anstrich, das hatte er anders in Erinnerung.
Röntgenstraße, Nussbaumerstraße. Die Bahn hielt, er stand auf, wollte seine alte Straße wiedersehen, wusste es vor zwei Minuten noch nicht. Sein Freund konnte warten.
Die Straßenbahn lief vor ihm weg, den Parkgürtel weiter.
Nussbäume gab es keine, aber hier hatte er fünfzehn Jahre lang gewohnt. Langsam ging er die Straße entlang.
Ottostraße.
Der Laden an der Ecke. Kästen mit Obst und Gemüse unter einer Markise. Lebensmittel auf einfachen Regalen. Freundlich die beiden Alten. „Hol’ doch bitte ein Pfund Kaffee, Günter, die machen dir bestimmt auf.“ Er ging ganz nah an die Scheiben heran. Suchte ein Krämerpaar aus Stettin. Sah in den Regalen nur Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränke. Kiosk stand irgendwo.
Mykonos hieß jetzt die Gastwirtschaft gegenüber. Manchmal hatte er dort gegessen, Billard gespielt. Er schaute durch die Fenster, sah den Tisch nicht mehr.
Er mied die Seite, wo er früher gewohnt hatte, ging die entgegen gesetzte Häuserfront entlang, bis zum Ende der Straße. Traf dort das Schild seines Hausarztes wieder. Er klingelte. Die Sprechstundenhilfe setzte ihn auf einen Stuhl. Rasende Kopfschmerzen. Nebenhöhlenvereiterung. Der Arzt zieht den Eiter ab, schafft ihm Luft im Kopf. Er taumelt nach Hause. Die Schmerzen lassen nach.
Kröger ging wieder zurück, diesmal auf der richtigen Seite. Die Eckkneipe erschien ihm aufgemotzt. Er ging hinein mit einem Siphon in der Hand. Schob sich durch die Menschen zur Theke. Verlangte eineinhalb Liter Kölsch für Fischers. Atmete Bierdunst und Rauch ein. Wurde angepflaumt und gefragt, wie alt er sei. Zahlte schließlich und trug das Gefäß nach oben, zu ihren Nachbarn. Bekam 50 Pfennig Trinkgeld.
Kröger ging links die Ecke herum, eine Seitenstraße entlang, Richtung Kirche. Die Straße wirkte langweilig grau, wie früher. Rechts die Schule, die er von innen kannte, weil dort das Wahllokal war. Hier hatte Adenauer seine Siege errungen.
Der Kirchplatz. Die Plattierung war erneuert, Jungbäume angepflanzt. Möbel- und Kleiderladen, geöffnet dienstags und samstags von 16 bis 19 Uhr.
Die Kirche war verschlossen. Er ging trotzdem hinein und setzte sich vorne in die zweite Reihe, um alles sehen zu können. Der Dominikaner aus Brasilien bat um Unterstützung. Der holländische Franziskaner zelebrierte die Messe mit, hatte ihm am Vortag den Unterschied zwischen objektiv und subjektiv erklärt. Objektiv betrachtet habe er schwer gesündigt, subjektiv gesehen nicht. Kröger war froh, weiter gehen zu dürfen.
Er umrundete die Kirche. Der Kirchturm hatte tatsächlich in der unteren Hälfte einen hellroten Putz bekommen.
Die Ottostraße entlang, zurück zu seiner Straße. Er konnte gut sein früheres Haus sehen. Damals wohnte er auf der dritten Etage. Balkon mit etwas Morgensonne, Geranien gediehen nicht, Nordseite.
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