„Aber doch nur, weil mir der Anblick, wie du isst, gefällt. Ich freue mich über deinen gesunden Appetit,” erwiderte er.
Ich sah von meinem Teller auf. Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch und musterte kauend den Padre. Er war schlagfertig. Das musste ich ihm lassen. Mir wäre diese Ausrede nicht so schnell eingefallen.
Pater Michael lächelte mich an, streckte seine Hand nach meiner Wange aus und tätschelte die pralle Hamsterbacke. „Aber bitte pass auf, dass du dich nicht verschluckst. Es gibt keinen Grund, wieso du schlingen müsstest, Ada,” meinte er, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Zärtlich gab er mir einen Kuss auf die Stirn und nahm dann seinen Teller, um ihn zur Spüle zu tragen.
„Mmmmdoch,” entgegnete ich ihn mit so vollem Mund, dass ich nicht einmal mehr vernünftig reden konnte. „Isch geh heub zum erschten Mal auf die Jagd, Meigall. Esch juckt misch schon toddal!”, nuschelte ich mampfend und grinste den Padre, der gegen den Spülschrank gelehnt stand und mich beobachtete, vor Freude an. Missbilligend verzog er den Mund. Ob nun der Bratkartoffelbröckchen, die ich beim Sprechen über den Küchentisch verteilt hatte, oder der anstehenden Patrouille wegen, konnte ich nicht sagen. Aber höchstwahrscheinlich überwog der Frust über meine heutige Rückkehr auf das Schlachtfeld. Es gefiel ihm gar nicht, dass ich es so eilig hatte, von ihm wegzukommen. Und mir gefiel es nicht, dass die Monster schon wieder für eine längere Zeit hatten tun und lassen können, was sie wollten, während man mich einem Aderlass nach dem nächsten unterzogen hatte. Wenn man meine verletzungs- und entführungsbedingten „Ausfälle” addieren würde, hatte ich sicherlich schon mehr Fehltage als alle Jäger, die es jemals gegeben hat, zusammen. Nicht einmal während meiner Schulzeit hatte ich solch einen miesen Durchschnitt gehabt! Nein, ich musste endlich wieder da raus gehen und die Kreaturen der Nacht daran erinnern, dass ich auch noch existierte. Ich würde zwar niemals wieder das gutmachen können, was die Monster in den letzten Wochen angerichtet hatten, aber wie hatte Pater Michael doch gesagt? Wir müssen an das denken, was vor uns liegt. Und das tat ich und würde mir die allergrößte Mühe geben, die Ausgeburten der Hölle für das büßen zu lassen, was man mir angetan hatte! Rache ist eben doch süß.
Als ich kurze Zeit später endlich durch die Straßen lief, die kühle Luft atmete und den Wind auf meiner Haut spürte, fühlte ich mich lebendig und frei. Plötzlich war alles andere in weite Ferne gerückt. Die Erinnerungen an den Schmerz und die Qualen, die ich durchlitten hatte. Die grausamen Bilder des Kampfes zwischen Pater Michael und der Vampirin. Die abgetrennten Köpfe in der Höhle und die Klänge der markerschütternden Schreie des Opfers, das nach Hilfe gerufen, aber dem niemand….dem ICH nicht geholfen hatte. All das schien auf einmal weit weg zu sein und in eine andere Zeit zu gehören. Ich war nicht mehr das wehrlose Ding, das in einer Kiste eingesperrt lag, das zu schwach gewesen war, um eine Banane anzuheben, dessen Muskeln in den Gliedmaßen so verkümmert und verkrampft gewesen waren, das es sich nicht bewegen konnte und der Anschein erweckt wurde, es hätte nie richtig gelernt, sie zu benutzen. Doch jetzt war ich dies nicht mehr. Jetzt stieß ich mich leichtfüßig vom Boden ab, um mich auf ein Monster zu stürzen. Meine Bewegungen waren geschmeidig und fließend, als ich das Schwert durch die Novembernacht sausen ließ und den Untieren den Garaus machte.
Ja, am Anfang fiel mir meine Arbeit leicht. Aber die Herbstnächte sind lang und somit auch die Patrouillen. Und während ich zuvor noch putzmunter gewesen war und mich rasch von den Anstrengungen erholt hatte, war ich nun an einen Punkt angelangt, an dem mir das Kämpfen nicht mehr leichtfiel. Die Beine wurden schwer, die Arme müde, die Schmerzen in der Hand, mit der ich versucht hatte, eine Wand zu durchschlagen, flammten wieder auf und meine Erholungsphasen dauerten länger. An einem U-Bahnhof schaute ich auf das hell erleuchtete Ziffernblatt, das mir verriet, dass es bereits kurz nach zwei Uhr morgens war. Sieben Stunden waren seit meinem Verlassen der St. Mary’s Kirche an mir vorübergezogen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Aber so ist das nun einmal, wenn man Spaß hat, und den hatte ich wahrlich gehabt! Ich hatte beinahe zwei Dutzend Monster vernichtet und dazu drei Vampire erledigt. Trotz der Folgen der langwierigen Verfolgungsjagden und der unbarmherzigen Kämpfe, die ich nun am ganzen Körper spürte, freute ich mich über die hohe Anzahl, aber ich begriff auch, dass es für mich Zeit wurde, nach Hause zurückzukehren.
Seufzend wälzte ich mich in meinem Bett herum und warf einen Blick auf die Uhr auf meinem Nachttisch. Es war bereits halb ein Uhr vormittags. Ich hatte mehr als acht Stunden geschlafen und konnte mich auch nicht über irgendwelche körperlichen Beschwerden beklagen, die ich befürchtet hatte zu verspüren. Das Einzige, was mich störte, war, dass noch gute fünf Stunden vergehen mussten, ehe ich wieder auf Patrouille gehen konnte. Es war merkwürdig, aber ich hatte einen beinahe unbändigen Drang, sofort wieder loszuziehen. Kennen Sie das, wenn Sie…sagen wir…einen wirklich tollen Film gesehen haben, das Kino verlassen und am liebsten gleich noch einmal hineingehen würden? Genauso fühlte ich mich jetzt. Nur musste ich warten, bis es dunkel war. „Verdammt! Wie soll ich denn diesen Tag überstehen?”, nuschelte ich und rieb mir mit den Händen über das Gesicht. Ich hatte wirklich keine Idee, was ich in den nächsten Stunden tun sollte. Nur eines war sicher: Es war Zeit fürs Frühstück/ Mittagessen. Also schwang ich die Beine aus dem Bett und verschwand unter der Dusche.
Die ersten eineinhalb Stunden brachte ich problemlos hinter mich. Duschen, essen, in der Bibliothek herumlungern. Aber dann ging es los: die große Langweile! Um mein „Leid” zu teilen, begab ich mich auf die Suche nach Pater Michael. Nachdem ich alle Türen in unserem unterirdischen Zuhause geöffnet und nach ihm gerufen hatte, fand ich ihn schließlich im Wohnzimmer. Als ich in den Raum eintrat, rührte er sich nicht, und ich war verwundert darüber, wie vertieft er in seine Arbeit sein musste, um das Gehen der Tür oder meine schlurfenden Schritte, die sich zum Sofa bewegten, nicht zu hören. Erst als ich mich seufzend in die Polster fallen ließ, drehte der Padre seinen Kopf zu mir und kommentierte mein Eintreffen. „Hast du das Mittagessen, das ich im Kühlschrank für dich bereitgestellt hatte, gefunden?”, wollte er wissen.
„Ja, danke. Es war wirklich gut,” antwortete ich, und mir lief das Wasser erneut im Munde zusammen, als ich an das Hühnchen und den Reis dachte. Im Kochen konnte man dem Pater wirklich nichts vormachen.
Pater Michael lächelte und nickte zufrieden. Dann wandte er sich wieder dem Computerbildschirm zu und widmete sich seiner Arbeit, wie ich dachte. So viel zum Thema „Geteiltes Leid ist halbes Leid”! Den Padre schien mein theatralisches Seufzen, zu dem sich schon bald das Trommeln meiner Finger auf der Tischplatte vor mir gesellte, keinen Deut zu interessieren. Ich wollte aber, dass er seine Aufmerksamkeit mir zuwandte. Also seufzte und trommelte ich lauter. Aber merkwürdigerweise reagierte er auch darauf nicht! Immer noch völlig gebannt von dem Kirchenkram, wie ich vermutete, starrte er geradeaus, während ich vor Langeweile fast verging und sich in meinem Inneren der Drang, hinaus in die Straßen zu gehen und so viele Monster zu töten, sodass die Straßen meiner Heimatstadt mit ihnen gepflastert wurden, ins Unermessliche steigerte. Vielleicht aber hörte er mich ganz genau und ignorierte mich einfach nur gekonnt. Dieser Gedanke trieb mich dazu, eine andere Methode anzuwenden: lautstarkes Jammern. „Mir ist so langweilig!”
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