Es war Sarah anzusehen, wie sehr sie sich darüber freute, dass der Padre ihr bestätigte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte. Mit großen Augen betrachtete sie sich sein Gesicht aus nächster Nähe und begutachtete auch seine Wange, auf der die Narbe rot leuchtete. Sie entstellte ihn nicht. Sie verlieh ihm etwas Heldenhaftes. Sie bestätigte seine Kraft, seinen Mut und war ein Symbol des siegreichen Kampfes, den er gefochten hatte.
„Und wofür bist du dankbar, kleine Sarah?”, fragte Pater Michael sie nach ein paar Augenblicken, in denen er ihr gestattet hatte, sich ihn anzusehen.
„Eiscreme,” platzte es aus ihr heraus und brachte uns damit alle zum Lachen.
9. Die priesterlichen vier Buchstaben
Die Gemeindemitglieder hatten sich allesamt verabschiedet. Wir waren wieder allein. Ich stand am Fuß der Treppe, die zum Altar hinaufführte, und beobachtete Pater Michael dabei, wie er die Kerzen löschte. Ihr Rauch stieg spiralförmig in die Luft, wo er sich rasch ganz und gar auflöste. „Ich glaube, Sarah hat sich heute endgültig in dich verliebt,” sagte ich in die Stille hinein.
Pater Michael lachte und blies die letzte Kerze aus. „Ist fünf nicht etwas früh, um an Liebe zu denken?”, fragte er, drehte sich herum und kam zu der Treppe. Langsam stieg er die Stufen hinab, blieb auf der untersten stehen und sah zu mir hinunter.
Ich zuckte mit den Schultern. „Auch mit fünf weiß man, was das ist. Da liebt man Schokopudding mit Vanillesoße abgöttisch, und ohne den Teddybären mit den runden Knopfaugen kann und will man nicht mehr sein,” meinte ich und klimperte ganz verzückt mit den Wimpern.
Mit großen, überraschten Augen betrachtete mich der Padre. „Hast du das alles geliebt, als du so alt warst?”, wollte er wissen.
„Schon möglich. Meine Liebe war allerdings harmlos. Bei Sarah bin ich mir da nicht so sicher, und Fünfjährige sind vom Kopf her heutzutage weiter, als ich es damals war. Ich sage dir, sie hat sich in die verliebt,” erwiderte ich und zwinkerte ihm zu. „Verdenken kann ich es ihr nicht. Du bist ja auch ein echtes Sahneschnittchen,” fügte ich hinzu und besah mir Pater Michael von oben bis unten.
„Sahneschnittchen?”, wiederholte er ungläubig.
Ich nickte und sah zu ihm hinauf. „Du bist so süß und lecker, dass einem das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn man dich nur ansieht. Den Appetit auf dich kann man nur stillen, indem man von dir kostet,” antwortete ich und leckte mir mit der Zunge genüsslich über die Lippen. Mein Blick senkte sich wieder, und als er bei Pater Michaels Körpermitte angekommen war, musste ich unwillkürlich denken: „Und wenn man nicht aufpasst und zu viel von ihm probiert, wird man bald dick.” Der Gedanke brachte mich zum Kichern.
„Was ist denn so komisch?”, fragte der Padre.
Ich hob meinen Blick und musste über den völlig verdattert dreinblickenden Mann vor mir lachen. „Glaub mir! Du willst nicht wissen, was mir gerade im Kopf herumgegangen ist,” meinte ich immer noch vergnügt vor mich hin glucksend und trat beiseite, um Pater Michael, der den Kopf schüttelte, vorbeizulassen. Offensichtlich hatte er es aufgegeben, nach dem tieferen Sinn unserer Unterhaltung zu suchen. Als ich hinter ihm lief, konnte ich mich nicht gegen den Drang wehren, auf seinen Hintern zu starren, der zwar unter der weiten Soutane kaum auszumachen war, von dem ich aber wusste, dass er rund, fest und knackig unter dem Stoff lag. „Mein Sahneschnittchen,” flüsterte ich völlig hingerissen von der Vorstellung seines Allerwertesten.
„Was hast du gesagt?”, fragte der Padre, blieb stehen und drehte sich zu mir herum.
„Nichts. Absolut nichts!”, log ich und grinste schelmisch. Ich schob mich an ihm vorbei und nutzte die Gelegenheit, um ihm einen Klaps auf seine vier Buchstaben, für die ICH unendlich dankbar war, zu geben.
Der Padre zuckte erschrocken zusammen und sah mich entrüstet an. Ich hingegen lachte laut über seinen Anblick und verschwand hinter dem dunkelroten Vorhang, hinter dem das Büro lag.
Es war gar nicht so einfach, meinen Plan, bei deren Umsetzung mir Sarahs Mutter half, vor dem Pater geheim zu halten. Meine Idee war so spontan aufgekommen, dass ich keine Zeit gehabt hatte, um über entscheidende Dinge nachzudenken, und somit hatten meine Komplizin und ich weder unsere Telefonnummern ausgetauscht noch einen festen Termin ausgemacht, an dem die Übergabe stattfinden sollte. Ich wusste, dass Pater Michael für Notfälle eine Liste der Telefonnummern aller seiner Gemeindemitglieder irgendwo in seinem Büro herumzuliegen hatte. Doch jedes Mal, wenn ich nach dem Nummernkatalog suchen wollte, platzte der Padre in den Raum, und ich musste mir eine Ausrede einfallen lassen, wieso ich mit meiner Nase über seinem Schreibtisch hing oder mit dem Kopf in den Schränken steckte. Von Mal zu Mal wurden meine Anmerkungen absurder, und es war nicht verwunderlich, dass Pater Michael mich immer misstrauischer beäugte. Als ich dann auch noch anfing, stundenlang vor dem Portal zu lauern, platzte dem Padre der Kragen. „Verdammt noch mal, Ada! Ich habe allmählich genug von deinem seltsamen Verhalten! Ich verlange zu erfahren, was hier vor sich geht!”, polterte er los und baute sich bedrohlich vor mir auf, sodass ich weder links noch rechts an ihm vorbeikam. Mir blieb nur die goldene Mitte, wo Pater Michaels breite Brust, seine starken Arme und durchtrainierten Beine waren, die mit den grauen Steinplatten unter seinen Füßen verwachsen zu sein schienen. Kurz entschlossen sprang ich an ihm hoch und hing wie ein Klammeraffe an ihm. Überschwänglich bedeckte ich sein verärgertes Gesicht mit zahlreichen Küssen. Ich war eigentlich immer eine glühende Verfechterin der Bartlosigkeit gewesen, aber mittlerweile empfand ich das Kratzen als angenehm und sogar aufregend. Trotzdem war ich froh darüber, dass der Padre seine Gesichtsbehaarung regelmäßig stutzte. Ein Rumpelstilzchen wollte ich nun wirklich nicht küssen.
Meine Aktion überraschte ihn so sehr, dass er seine Standfestigkeit vorübergehend verlor. Ich kletterte von ihm herunter. Problemlos konnte ich mich an ihm vorbeischieben und ließ ihn verwirrt am Portal zurück. Ich war noch einmal davongekommen, aber das Zusammenleben mit Pater Michael machte es nicht einfacher. Meine Verschwiegenheit, meine Geheimnistuerei trieb ihn beinahe in den Wahnsinn! Er war mürrisch, verließ das Zimmer, wenn ich eintrat und gab mir nur noch einsilbige Antworten auf Fragen, die ich stellte. Ich bin versucht zu sagen, dass er eine eingeschnappte Leberwurst war, aber ich will mal nicht so sein. Außerdem wurde er zwei Tage später von diesen unsäglichen Qualen erlöst, als für mich ein Päckchen abgegeben wurde. Da ich meinen Posten am Portal hatte aufgeben müssen, fiel die Lieferung leider als erstes in Pater Michaels Hände. Doch ich rechnete es ihm hoch an, dass er seine Neugierde so weit im Griff hatte und mir das sorgsam zugeklebte Päckchen unangetastet ins Wohnzimmer brachte, wo ich es mir auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Als ich sah, was es war, sprang ich hastig auf und durchquerte im Nullkommanichts den Raum, um die Schachtel aus seinen Händen zu reißen, in denen er das Päckchen hin und her drehte und es sogar schüttelte, um am Klang zu erkennen, was sich darin befand.
„Na endlich,“ rief ich aus und fügte beim Verlassen des Wohnzimmers hinzu, „freu dich, Michael! Du wirst des Rätsels Lösung bald erfahren. Ach, und ich möchte für eine Weile nicht gestört werden, klar?!” Und schon rannte ich den Gang entlang und auf mein Zimmer zu.
Für eine erstaunlich lange Zeit respektierte Pater Michael meinen Wunsch, aber nachdem ich Stunden in meinem Zimmer zugebracht hatte, machte er sich wohl Sorgen um meinen Verbleib, und ich hörte ihn aus meinem Zimmer rufen: „Ada? Bist du da?” Wo sollte ich denn sonst sein? Dachte er etwa, dass ich mir heimlich einen Tunnel nach draußen gegraben hatte?
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