»Muss es nicht«, hörte sie Luc sagen. »Mir tut es nicht leid und das ist ehrlich gemeint.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drücke sie ganz sanft. »Es ist doch so schön, dich wiedergefunden zu haben.«
Mehr sagte er nicht, und er nutzte die Situation auch nicht aus, die ihre unverhoffte Nähe ihm bot und der sie sich nicht entzog. Gerade deswegen ging ihr ein einziges Wort von ihm so tief ins Herz. »Wiedergefunden…« Sie sollte die Dinge dieses unvorhersehbaren Tages nicht so wichtig nehmen, andrerseits hatte sie noch niemals bei dem Wort eines Mannes das Gefühl, es schneidet ihr die Luft ab. Ihr einziger Wunsch war, dass sie sich um Gottes willen nicht wieder in ihn verliebte. Leider spielten ihre Sinne da nicht mit. Immer wieder hörte sie das Wort, das sie so aus der Fassung gebracht hatte und das sie doch nicht oft genug in ihrem Kopf wiederholte: Wiedergefunden.
Jetzt konnte sie keine Macht der Welt bewegen zu denken, einem berechnenden Mannsbild auf den Leim gegangen zu sein. Wenn es je einen ehrlichen Mitschüler ohne Vorurteil und ohne Berechnung gegeben hat, dann war es Luc Abelius.
Als kleines Mädchen hatte sie sich oft den idealen Mann vorgestellt, ihren Prinzen auf dem weißen Ross. Und dann als Halbwüchsige sah sie Luc Abelius und wusste, es war ihr Ritter. Leider fand er nicht aus seiner Rüstung und ihr wurde klar, im wirklichen Leben existieren diese Prinzen nicht.
Es gab damals durchaus Momente, wo sie es bedauert hat, dass er nicht direkter war, nicht zudringlich, nicht einmal bittend. Luc war immer bescheiden, was sie als distanziert gedeutet hat. Wären ihr seine vielen guten Eigenschaften eher aufgegangen, als ausgerechnet in der Abitur-Phase, sie hätte ihn durchaus zu inspirieren gewusst. Damals hatte sie aufgegeben, weil sie sich keine Blöße geben wollte. Es gab ohnehin keine Chance für sie beide, sobald der Abi-Ball vorbei sein und sie zum Studium gehen würde. Daher hatte sie sich beizeiten darin geübt, sich mehr und mehr zurückzunehmen. Der schlimmste Moment war jener Tag, als sie endgültig der Schule adieu sagten.
Sie war dann alsbald mit ihren Eltern auf einer Reise zum Mittelmeer. Ohne zu ahnen, warum sie daran keine Freude hatte, verbot sie sich trotzig, der Schulzeit nachzutrauern. Von irgendetwas fühlte sie sich ausgegrenzt, ins Abseits getrieben, und im Gegensatz zu ihr, würde der Mensch ihrer heimlichen Wünsche sogar froh darüber sein.
Heute – und nach den beiden so zufriedenen Stunden im Café – war es tröstlich zu wissen, dass sie ab jetzt einen Freund in ihrer Nähe hatte, ohne seine Nähe strapazieren zu wollen. Andererseits war sie nicht hier, um zu resignieren, sich wortlos zurückzuziehen, nur weil er sich zurückhielt. Sie ist es. Sie kann sich zurückziehen, wann immer es ihr beliebt…
Vielleicht dachte Luc jetzt ebenso. Vielleicht wartete er nur darauf, dass sie sagte: Es war ein schöner Abend, Luc. Mach 's gut. Man sieht sich. Das kannte man ja, aber das konnte sie aus seinem Blick nicht deuten. Wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie schon oft daran gedacht, keinen wirklichen Freund zu haben, keinen jedenfalls, auf den sie zählen konnte. Sogar die Kollegen, die sie ganz passabel fand, taugten nicht als Freunde.
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Luc wusste es wie von keinem anderen Menschen: Wenn sich Denise Ebentheuer einmal zu etwas entschlossen hatte, dann gab es nichts, was sie davon abhielt. Es war genau dieser Umstand, der ihn vor Jahren davon abgehalten hatte, sich diesem Mädchen zu erklären. Aber vielleicht hatte genau dieser Umstand einen so großen Anteil daran, dass er Denise nie wirklich vergessen hat. Dass es einmal diesen Glückstag geben würde, konnte keiner von beiden voraussehen.
Luc erschrak vor seinen eigenen Gedanken: Wie kannst du glauben, sie denkt wie du an einen Glückstag?
Noch saß sie ihm gegenüber, eine wundervolle Mischung aus Selbstsicherheit und Zerbrechlichkeit, wie er zu erkennen glaubte.
Während er an seinem Brot kaute, spürte er ihren Blick auf sich ruhen. Er ist nicht mehr wie früher, er hat gelernt, was Selbstvertrauen mit einem Menschen machen kann. Dennoch musste er vorsichtig sein. Nichts ist schädlicher für eine Freundschaft, als allzu klare Bekenntnisse.
Freundschaft?, dachte er. Meinst du wirklich Freundschaft?
Seine Gedanken klangen noch lange in der Stille nach, in die sie beide gefallen waren. Stille war nicht immer gut. Er mochte Leute nicht, die sich nichts zu sagen haben und nur hölzern beieinandersitzen. Andererseits hätte er Luftsprünge machen können, dass sie überhaupt mit zu ihm gekommen ist. Ohne ein Fünkchen Sympathie wäre sie längst in ihrer Reinhardtstraße, vermutlich in einem vornehmen Loft.
Wird er überhaupt in der Lage sein, zu tun, was seit Stunden in ihm brannte. Wird er mit ihr darüber reden können, was ihn vor Jahren strikt von ihr ferngehalten hatte? Sie hatte ein mehr als behütetes Leben. Und er…? Behütet schon, aber alles anderen als begütert.
Warum sollte er darüber nicht offen mit Denise reden, jetzt, wo sie beide ihr Leben selbst gestalteten, erstrecht, seit sie in dem Café so viele Erinnerungen an die gemeinsame Zeit getauscht haben.
Er merkte, dass Denise ihn beobachtete, dass sie jeden Wimpernschlag erkundete. Gerade schenkte sie ihm wieder dieses besondere Lächeln, und das machte ihm Mut.
»Du weißt, dass ich dich damals schon … gut fand«, begann er, was ihr Lächeln noch verstärkte. Diesem süßen Mund hatte das Leben noch nichts genommen. Einmal, ein einziges Mal, hatte er — flüchtig zwar —, seine Lippen auf diese zarte Knospe gedrückt. Das war es vermutlich, was ihm so lange im Gedächtnis geblieben war. Die unerfüllten Wünsche leben am längsten.
»Ich glaube, alle Jungs haben sich etwas ausgedacht, nur um dir…«
»Nein Luc, sag nicht sowas!«
Ihre Stimme konnte sagen, sie nimmt seine Worte nicht ernst, aber ihre Augen verrieten etwas von Freude, von Erwartung.
»Doch«, protestierte er. »Wenn du wüsstest, was ich alles angestellt habe…«
Ob eine wie Denise, die aus wohlhabendem Hause stammte, seine Sorgen überhaupt verstanden hätte? Seine Mutter konnte all das nicht leisten, was andere Mitschüler als ganz normal ansahen. Dennoch hatte sie ihm die höhere Schule ermöglicht, und er hat sie dabei bisweilen ganz passabel unterstützt.
»Ich kann es nur von mir sagen, aber ich weiß, dass die anderen … im Rahmen ihrer Möglichkeiten…«
»Ihrer Möglichkeiten? Untertreibst du nicht etwas?« Sie berührte ihn an der Schulter und ihr Blick war weich und liebevoll. »Ich würde es 'im Rahmen ihrer Überheblichkeiten' nennen.«
Wenn es etwas gab, was Luc Abelius nicht lieber gehört hätte, dann waren es solche Worte.
»Ich war so verdammt verliebt in dich… Ich glaube, du hättest dich totgelacht, wenn du auch nur geahnt hättest…«
»Erzähle Luc. Erzähle; bitte!«
»Ich weiß nicht. Es ist doch so banal…«
Er sah, wie sich ihre Züge strafften, als sie fragte: »Banal von Bedeutung für dich, oder banal, weil wir zu jung waren…«
»Jung oder nicht, wahre Gefühle bleiben doch ... oder? Geht es dir… ist es dir im Leben anders gegangen?«
Ohne Vorwarnung, ohne Posaunentöne war er da, der Moment, den er seit Stunden herbeigesehnt hatte. In seiner Brust hämmerte das Herz so kräftig, dass er es vor ihr gar nicht mehr verbergen konnte.
Sie nahm sein Gesicht in ihre schlanken Hände und küsste sehr rasch seine Wange. Er konnte nicht anders, als ihr nachzugeben. Erst schleppend, dann mit erstaunlicher Leichtigkeit erzählte er davon, was er ein Leben lang in sich vergraben hatte, weil er sich albern vorkam.
»Du weißt, wie es um meinen sozialen Status stand. Wenn man nicht mithalten kann mit dem, was als Standard erklärt wird, bekommt man Hemmungen. Ich habe versucht, meiner Mutter zu helfen. Taschengeld, wie ihr es bekommen habt, war für mich ein Fremdwort. Ich habe mein Geld selbst verdient. Mitunter durch keine angenehmen Arbeiten. In aller Herrgottsfrühe noch vor dem Unterricht die Zeitungen austragen oder …«
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