»Da drüben ist eine Bank«, sagt ein älteres Pärchen, das sie im Vorbeigehen intensiv gemustert hat.
Sie hätte es sich auch denken können. So wie sie aussieht, so wie sie hier steht, fällt sie eben doch auf. Sie winkt lächelnd ab und murmelt etwas, von »…kommt gleich…«, was diese Herrschaften zu beruhigen scheint.
Ein paar Jungen flitzen barfuß um sie herum und weiter durch das frische Gras. Sie spielen mit einem ledernen Ball.
Als der Mann mit dem Kind in das Haus verschwindet — ihre Beine werden schwer, und es schmerzt in ihrem Rücken — schleicht Lydia mit verhärmtem Gesicht und unverrichteter Dinge zurück in ihre Unterkunft. Das kleine Haus direkt an der Straße wird kaum noch vermietet, weil niemand mehr für diesen großmütterlich-morbiden Charme auch nur einen Euro zahlen möchte. Ihr war alles recht. Fünfzehn Euro pro Nacht. Mehr ist für sie nicht drin…
Am nächsten Tag hält sie sich wieder ganz in der Nähe dieses Hauses auf. Einmal mehr fällt ihr auf, welch ein Paradies sich das Ehepaar geschaffen hat. Zum größten Teil ist das Haus massiv gebaut. An einigen Stellen auf der Giebelseite deutet das Mauerwerk ein eingelassenes Fachwerk an. Vermutlich musste man sich an Vorgaben halten, im Einklang mit der seltenen Landschaft.
Wie sie so steht und die letzten zwei Jahre überdenkt, wünscht sie sich noch einmal das Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu sein. Lebendig und voller Pläne. Dazu fehlt ihr die Kraft. Eine andere, die Kraft ihres geheimen Wunsches, erschreckt sie stattdessen und gibt ihr zugleich die Gewissheit, dass sie tun muss, was sie vorhat — unbedingt.
Manchmal sieht sie das Kind mit dem Vater. Nur einmal ist auch die Mutter dabei, aber als Lydia wie eine gelangweilte Touristin am Gehöft vorbeistolziert, fährt die Familie gerade mit dem größeren der beiden Autos aus dem Hoftor. Das Garagentor senkt sich derweil, also bleiben sie länger weg.
Lydias Fuß stampft unmerklich in den Kies. Der Moment der Enttäuschung verfliegt, ihre Ungeduld verliert jeden Sinn.
Der Mann steigt noch einmal aus dem Wagen und überprüft das Hoftor; die Frau dreht sich um zu dem Kind, das vom Kindersitz aus mit seinen Ärmchen fuchtelt. Vermutlich zeigt es der Mutter sein teures Spielzeug. Die Frau lächelt dem Mädchen zu. Nur schemenhaft sieht Lydia deren Haar und den feinen Teint. Sie ist blond wie das Kind und wie sie selbst — und dieser Umstand sagt Lydia, sie sollte sich beeilen. Einmal wird auch die Mutter allein sein mit dem Kind…
Ihr Zustand erlaubt es nicht länger, stundenlang vor dem Haus zu stehen und auf einen günstigen Moment zu warten. Das Wetter schlägt um und es ist nicht sicher, ob die Leute bei Regen überhaupt noch vor dem Haus zu sehen sein werden. Wann also ist der beste Moment?
Sie denkt an Tobias und spürt jeden Muskel, jeden Knochen, den er ihr brechen könnte, wenn sie nicht bald zurückkommt, oder falls er sie vergeblich bei den Tschechen sucht.
Natürlich gibt es für ihren heimlichen Plan auch jene Möglichkeiten, die Tobias nach wütenden Schlägen von ihr verlangt hat. Natürlich. Aber dazu ist sie nicht bereit und mit zunehmender Zeit immer weniger. Und jetzt, wo sie das Kind gesehen hat, wo sie das Haus und das Drumherum kennt, gibt es nur eine Vernunft, und der wird sie jetzt folgen, auch wenn Tobias sie totsicher der Unvernunft bezichtigen würde, wüsste er von ihrem Plan. Spätestens nach dem Wochenende macht sie Nägel mit Köpfen. Nach dem Wochenende also, wenn der Vater zum Dienst muss…
An jenem Tag, als sie die Leute aufgespürt und das Kind zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, stand sie genau hier, wo sie jetzt wieder steht.
Heute hat sie die Haustür genau im Blick, die Garage ist wieder geschlossen. Gestern hatte sie das Kind im Blick, das auf die Rutsche geklettert war, mutig die Schräge hinunter nahm und vom Vater lachend aufgefangen wurde. Jetzt ist der Hof verweist und das Tor geschlossen. Wie lange wird sie hier stehen müssen…?
Lydia weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als die Tür aufgeht und zuerst der Mann erscheint, sportlich gekleidet. Zweifellos sieht er chic aus, besser als Tobias je ausgesehen hat. Warum ist der Mann nicht zu irgendeinem verdammten Dienst gefahren?
Sie muss sich konzentrieren, hat keine andere Wahl und auch keine Zeit mehr.
Die Kleine, an der Hand des Vaters, trägt eine lustige Latzhose mit einer Applikation, die sie nicht erkennen kann. Zuletzt tritt die Mutter auf die Schwelle. Lydia schaut in drei lachende Gesichter, doch ihr eigenes erstarrt zu Stein. Was sie sieht, als die Frau die vier Stufen herunter kommt, nimmt ihr allen Mut. Warum? Warum mir? Warum haben alle Menschen Glück, nur für mich gibt es nicht einmal eine klitzekleine Chance. Das ist nicht fair!
Abrupt dreht sie sich um und läuft mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihrer Unterkunft, während gleichzeitig die verschiedensten Gedanken durch ihren Kopf jagen: Einen neuen Plan ausdenken? Neue Argumente finden? Aufgeben etwa? Nie und nimmer…!
Einen neuen Anlauf wird sie wagen. Mehr als Schläge und Tritte kann sie nirgendwo bekommen.
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Das Schicksal gleicht einem hohen Berg. Du kannst den bequemen, aber längeren Weg wählen, oder den steinigen kürzeren. Achte nur immer darauf, den Blick in die Ferne nicht zu verlieren.
Sechs Jahre zuvor
Es gab Tage, an denen Denise ungemein traurig werden konnte. Besonders waren es jene, an denen die Natur die Seiten umblättert von Grün auf Rot-Orange.
Früher kannte sie dieses Gefühl nicht. Früher interessierte sie die Natur nicht mehr, als dass sie sie wahrnahm, im Guten wie im Schlechten. Seit einigen Jahren nahm sie ihr Umfeld ganz bewusst wahr.
In der S-Bahn Linie S7, die von Potsdam nach Berlin-Mitte fuhr, hatte sie Zeit, ihren Tag im Gymnasium Revue passieren zu lassen. Freitags tat sie das merkwürdigerweise öfter als an jedem anderen Tag zur Feierabendzeit.
Es hatte angefangen zu regnen. Dicke Tropfen peitschten gegen die Scheiben und zogen hektisch ihre Bahnen schräg über das Fenster. Ihre Gedanken kreisten zwischen der letzten Unterrichtsstunde, die sie mit ihrer Klasse absolviert hatte, und einer schwachen Erinnerung aus ihrer eigenen Schulzeit.
Ihr war, als verstummte das Geplauder um sie herum, als schlugen die Räder jetzt weniger auf die Schienenstöße, als driftete sie ab in jene Zeit, der sie vermutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, um sie als eine glückselige Zeit zu sehen.
Es war eine glückselige Zeit, obwohl sie nicht sagen konnte, dass sie jetzt nicht zufrieden war mit dem, was sie tat und mit dem, wie sie lebte. Der Name ihrer Arbeitsstätte, ein privat geführtes Gymnasium, vermittelte den Anschein, es sei die Kaderschmiede für die Filmindustrie. Nicht nur der Name. Auch die Lage dicht beim Filmpark täuschte dies vor. Die einzige Verbindung zu dieser Annahme war das Bemühen der Einrichtung um die musische Erziehung der Schüler. Sie war damals sofort begeistert gewesen, denn ihr Teil des Doppelgymnasiums traf alles, was sie sich selbst für den Start ins Leben gewünscht hätte. Nichts erschien ihr erbaulicher, als jungen Menschen die musische Seite des Lebens zugänglich zu machen. Seit langem glaubte sie, das Technische überwiegt zu sehr in dieser Zeit und die Sinne kommen zu kurz. Alles Musische fördert die soziale Kompetenz junger Menschen, und die zumindest hatte in den letzten Jahren gelitten. Und überhaupt – wer seine Sinne nicht komplex genug schult, hat im Leben ein Defizit an Empathie und vermutlich auch an Sympathie.
Denise war nicht vorgewarnt. Sie war sogar zu überrascht, um sich dem Blick zu widersetzen, der sie traf. Irgendwo schräg vor ihr sah sie blauen Augen auf sich gerichtet. Sie nahm das bunte Magazin und hielt es besonders hoch, sodass ihre Arme bald zu schmerzen begannen. Ein paar Stationen ging das so, dann gab sie auf, der Kerl war offenbar ausgestiegen. Kaum legte sie das Blatt beiseite, hörte sie eine Stimme direkt hinter ihr. »Denise? Denise Ebentheuer?«
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