Hansen verlangte vollständige Aufklärung mit allen Konsequenzen, obwohl Werner Jensen zu seinen Stammtischfreunden gehörte und Mitglied im gemeinsamen Schützenverein war. Doch er konnte sich keinen feigen Anschlag auf das Leben einer Friseurin oder irgendein anderes Leben leisten, da er mitten im Wahlkampf steckte und auf solche falschen Freunde, weiß Gott, verzichten konnte. Mit diesem Holtzapfel hatte er schon genug zu tun.
Stammtisch hin oder her – man musste Prioritäten setzen. Dieser ganze Kriminalfall kam ihm gerade recht, war doch Jensen jetzt schon das dritte Mal in Folge Schützenkönig geworden. Je länger er über ihn nachdachte, umso suspekter war er ihm schon immer gewesen.
Nachdem Jensens Frau nach einem Schützenfest mit dem Metzger aus dem Nachbardorf über alle Berge verschwand, wurde er sichtlich aggressiver. Der Alkohol wurde sein bester Freund und war wohl auch Schuld daran, dass Bauer Jensen beim letzten Wettschießen den ›Allerwertesten‹ von Bürgermeister Hansen nur ganz knapp verfehlte.
Inzwischen war Jensen trocken, aber die Angst, er könnte plötzlich Amoklaufen, blieb bei allen Dorfbewohnern allgegenwärtig. Schließlich war er immer noch bewaffnet. Nicht im Moment, aber doch grundsätzlich.
Die Beamten stiegen aus ihrer Unfall-Karre aus und standen auch schon komplett im Matsch. »Was für´ ne Scheißgegend«, stöhnte Brodersen, der vom Unfall noch gezeichnet war. Auf seiner Stirn entstand ganz langsam eine Beule, der man beim Wachsen zusehen konnte. Die war beim Aussteigen entstanden, als er gegen den Holm geknallt war. Block schien komplett unverletzt. Brodersen klemmte seinen immer noch apathisch blickenden Hund unter den Arm und machte sich auf den Weg zu den Zeugen.
Der Wagen zog jetzt alle Blicke auf sich. Der Bürgermeister fragte: »Unfall?«
»Nee!« antwortete Brodersen nur kurz.
Hansen schaute verächtlich und brummte leise:
»Der Hund hatte offensichtlich keine Knautschzone.«
»So, jetzt wollen wir uns alle mal wieder beruhigen«, befahl der Kommissar und verwies den Bürgermeister in seine Schranken, »Wer war der erste am Tatort und wer hat etwas beobachtet?« Brodersen war selbst überrascht, dass er so ruhig blieb. Normalerweise hätte er alle sofort mit aufs Kommissariat genommen und zur Sau gemacht. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er selbst noch immer unter Schock stand. Eine Reibeisenstimme hinter ihm meldete sich plötzlich zu Wort. Der Kommissar schreckte zusammen und Klaus hatte sein Bellen wieder gefunden. Brodersen drehte sich um und schaute zehn Zentimeter hinunter auf einen kleinen, schmalen und weiß-haarigen Mann mit fahler Haut. Der war ganz in schwarz gekleidet und machte keinen besonders Vertrauen erweckenden Eindruck. Auf Brodersens gesamte Haut legte sich ein kalter Schauer.
» Ich habe die Frau gefunden.« erklärte der fleischgewordene Tod leise.
»Und wer sind sie?« Der Kommissar war vorsichtig. Er traute diesen ›Grufti‹-Typen nicht.
»Ich bin der Bestatter. Mein Name ist Knuth Hunoldt – vorne mit TH, hinten mit DT.« antwortete der schwarze Mann mit monotoner Stimme. Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch. Wenn er etwas hasste, waren es Rätsel. Was wollte ihm der Kerl damit sagen?
»Knuth mit TH und Hunoldt mit DT.«
OK, jetzt machte es Sinn. Der Bürgermeister rundete das Bild ab, indem er den Beamten hinter vorgehaltener Hand mitteilte, dass er nicht nur Bestatter, sondern ein Upgrade zum Pastor hätte. Hauptkommissar Brodersens leise Bemerkung zu seinem Kollegen Block: »Das passt.« Polizeiobermeister Block nahm die Personalien auf und ließ sich von Knuth Hunoldt den Zeitpunkt des Auffindens der Leiche nennen und was er zu der Zeit hier wollte.
»Es muss so um … 18.30 gewesen sein. Ich kam hier ganz zufällig vorbei.« krächzte der Mann.
»Was macht man denn rein zufällig zur fraglichen Zeit hier auf dem Feldweg?« befragte der Kommissar, während er seinen Hund aus der Umklammerung löste und ihn auf dem Sandweg absetzte. Der Mops machte sich auch gleich aus dem Staub. Eilig steuerte er einen Zaunpfahl an und pieselte auch schon los … gefolgt von etwas Durchfall – wohl wegen der Aufregung.
Hunoldt beobachtete den Hund bei der Verrichtung und verzog das Gesicht, bevor er antwortete: »Ich mache immer am Abend noch mal einen … Verdauungsspaziergang.«
Schnell lenkte der Kommissar die Aufmerksamkeit wieder auf sich:
»Und dann? Was haben sie beobachtet?«
»Ja also … als ich dazu kam, war schon alles passiert. Frau Jentsch lag direkt unter einem der großen Reifen und unter dem anderen lag ihr Fahrrad. Beide waren platt. Der Jensen saß geschockt auf dem Boden neben seinem Trecker und war völlig fertig. Ich hab dann erstmal Dirk … also … unseren Polizisten und den Krankenwagen gerufen.«
Brodersen nickte mehrfach, während er die Aussage in sein kleines Büchlein schrieb.
»Also haben sie den Unfall eigentlich gar nicht beobachtet.«
»Nicht direkt, das ist korrekt. Aber ich konnte mir doch denken, was geschehen war. Frau Jentsch war unter die Reifen geraten. Unfall.«
Der Beamte gab ihm zu verstehen – ob Unfall oder nicht, das sollte Herr Hunoldt mit TH mal bitte der Polizei überlassen. Der Pastor berichtigte und versuchte dabei zu lächeln:
»Mit DT…Hunoldt mit DT…Knuth mit TH.«
Es war sehr umständlich und aufwendig, die Tote unter dem Trecker zu bergen. Schließlich wollte man sie ja in einem Stück in die Gerichtsmedizin bringen.
Nun musste erst einmal schweres Gerät bestellt werden, um den Trecker zu bergen. Der wurde anschließend in die KTU transportiert. Danach barg man Frau Jentsch. Drei Mann ächzten unter dem Gewicht der ziemlich korpulenten Toten. Man überlegte kurz, das schwere Gerät – den Tieflader samt Kran – auch hier anzuwenden. Schließlich konnte man bei ihr nicht mehr so viel kaputt machen. Aber dann klappte es doch noch, ohne dass Frau Jentsch weiteren Schaden nahm und die Tote knallte in die Zinkwanne. Unter Einsatz des gesamten Körpergewichts schlossen die Männer die Metall-Kiste. Endlich ging es in die Gerichtsmedizin nach Kiel. Der Rechtsmediziner gab die Antwort, noch bevor der Kommissar die Frage stellen konnte:
»Ich habe noch keine Vermutung zum Tod der Frau – bis auf, dass sie irgendwie unter die Räder gekommen ist. Ob sie gestoßen wurde oder einfach nur gefallen ist, wird sich noch zeigen. Vielleicht war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich kann erst mehr sagen, wenn sie bei mir auf´ m Tisch liegt.«
Hauptkommissar Brodersen und sein Kollege Block fuhren zwischenzeitlich ins Krankenhaus, um den Bauern zu besuchen. Der hatte sich beruhigt und konnte zum Unfall befragt werden. Die Asklepius-Klinik lag dreißig Kilometer entfernt in der nächsten Kreisstadt.
Da Hunde im Krankenhaus grundsächlich nicht erlaubt waren, musste Klaus gegen seinen Willen im Auto bleiben. Der war stinkig, dass sein Herrchen ihn alleine ließ. Daher fing er auch sofort an, sich in Form von Vandalismus mitzuteilen. Im Auto flogen die Fetzen. Doch von alldem bekamen die Beamten im Moment noch nichts mit.
Mit einem Zzzischsch öffnete sich die Automatiktür. Block desinfizierte sich im Eingangsbereich die Hände an den Desinfektionsspendern, während Brodersen schnurstracks Richtung Empfang weiterging. »Stopp!« rief ihm Block hinterher, »Erst Hände desinfizieren. Schließlich hast Du Deinen Hund angefasst.« Brodersen rollte mit den Augen, machte kehrt und tat es seinem Kollegen gleich.
Um diese Zeit ging es auf den Fluren sehr ruhig zu. Die Nachtschicht hatte begonnen.
Am Empfang erkundigte sich POM Block nach dem Patienten.
»Sind sie mit Herrn Jensen verwandt?« Die dralle Nachtschwester an der Rezeption schaute energisch. Die Beamten wiesen sich als Polizisten aus und durften passieren.
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